Einmal scheint die Sonne wieder
sich ihr würziger Duft mit dem Lysolgeruch um die Herrschaft über die Stationen streiten würde. Was ich bekam, waren schlaffe Girlanden aus rotem und grünem Kreppapier (sichtlich gut desinfiziert) und rote Pappglocken, die etwas schief in jeder Tür hingen. In meiner neu erworbenen guten Stimmung machte mir das nichts aus, es war wenigstens etwas, und es bedeutete Weihnachten.
Die Schwestern fingen an, zweimal am Tag Pakete auszuteilen. Eleanor bekam jedesmal eines oder mehrere, Die Schwestern packten sie unter ihr Bett, wo sie mir immer vor Augen lagen, sich aufregend türmten und bewiesen, daß feine Kerle Hunderte von Freunden haben. Ich wußte, daß ich mit allem, was ich bekam, auf die Familie angewiesen war, die mich der Blutsverwandtschaft wegen gern haben mußte.
Ich weiß nicht, ob es auf Christi Einfluß zurückzuführen oder nur reine Festtagsstimmung war, aber als Weihnachten näher und näher rückte, ließen die Schwestern etwas von ihrer Strenge fallen und zeigten hier und da ein Stückchen echter Wärme und Freundlichkeit. Auch Eleanor wurde freundlicher und erbot sich sogar, mir ein Exemplar von „Wissenschaft und Gesundheit“ zu leihen.
Am Tag vor Weihnachten fing es an zu schneien. Die großen, feuchten Flocken fielen senkrecht zu Boden, wo sie überraschenderweise nicht schmolzen, sondern bald die Rasenflächen, die Bäume und die Gebäude des Fichtenhains einhüllten, ganz wie auf einer Weihnachtspostkarte.
Am Weihnachtsabend stand plötzlich mein Bruder Cleve groß und stattlich in meiner Tür; er hatte sich gelassen über sämtliche Sanatoriumsvorschriften hinweggesetzt, roch köstlich nach Zigaretten und Außenwelt und trug einen großen, von Geschenken der Familie überquellenden Karton. Die Abendschwestern legten unsere Geschenke in aufregenden Haufen am Fußende unserer Betten zurecht, wiesen uns aber an, sie nicht vor dem Morgen aufzumachen.
Wenn nicht die großen, knitterigen Pakete mit ungezählten weihnachtlichen Klebeschildchen dabeigewesen wären, bei denen mir die Tränen in die Augen traten und ein großer Kloß in der Kehle saß, weil ich sofort wußte, daß sie von Anne und Joan stammten, wäre es wie ein Weihnachtsabend im Schulheim gewesen. Wir tranken heißen Kakao, redeten und lachten verstohlen und lauschten auf die klaren, süßen Stimmen des Weihnachtschors, der die Auffahrt hochkam.
Es waren mehrere Gruppen von Sängern, und sie wanderten über das Gelände, blieben an den Eingängen und unter den Fenstern stehen und sangen alle schönen, vertrauten Weihnachtslieder. „Vom Himmel hoch da komm ich her“, „O du fröhliche“, „Stille Nacht“, „Lobt Gott, ihr Christen allzugleich“, „Zu Bethlehem geboren“, „Ich steh an deiner Krippen hier“, „Kommet, ihr Hirten“, „Es ist ein Ros entsprungen“, „Dies ist der Tag, den Gott gemacht“, „Ihr Kinderlein, kommet“. Es waren wohl Freiwillige aus Kirchenchören oder gutherzige Leute aus der Nachbarschaft, denn ihre Stimmen waren nicht geschult und gingen gelegentlich auseinander, was anheimelnd und vertraut klang.
Während sie über das Gelände zogen, drangen die Lieder bald laut, bald leise zu uns hinüber, wie Lieder von einem Lagerfeuer oder über einem stillen See am Sommerabend. Als sie unter den Fenstern unserer Station sangen, verwob sich die Melodie mit Lauten tiefen Kummers, mit Weinen und langen, gebrochenen Seufzern, denn manche der Patienten verbrachten das zweite, dritte, ja das sechste Weihnachten fern von daheim, und einige wußten, daß sie Weihnachten niemals wieder zu Hause sein würden.
Aber trotz des feuchten Schnees und der tiefen Dunkelheit sangen die Sänger mit Hingabe und Begeisterung, und das „Freue dich, freue dich“ strömte frohgemut in jedes offene Fenster und besiegte bald die Seufzer und das unterdrückte Schluchzen. Als die Sänger fort gingen, war die Station ganz still, Friede und Wohlgefallen lagen über ihr.
ZWÖLFTES KAPITEL
Beschäftigungstherapie
Drei Monate dauerte die Periode der Schwangerschaft beim Fichtenhain. Die Empfängnis fand statt im Verwaltungsgebäude, wurde festgestellt von einem Anstaltsarzt, anerkannt von der Oberschwester, und während der nächsten drei Monate existierten wir als Embryos, sorglich gehegt und gepflegt von Mutter Hospital, lebendig, aber noch nicht lebend. Nach Ablauf von drei Monaten kamen wir zum Vorschein und waren nun selbständige Geschöpfe, die zur Beschäftigungstherapie herangezogen wurden, in den Film
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