Einmal scheint die Sonne wieder
gingen, Bücher lasen und, wenn sie kräftig genug waren, aufstehen durften.
Mein Geburtsdatum war der 28. Dezember, und dieser Tag bedeutete mehr für mich als Weihnachten. Ich machte ein großes rotes Zeichen in meinen Kalender und lebte ständig in Angst, das Personal könnte vielleicht nicht daran denken, daß dies der Tag war, würde nicht veranlassen, daß ich zur Untersuchung kam, die Voraussetzung für jede Betätigung.
Als die Oberschwester am Morgen des 28. Dezember nach dem Frühstück durch die Zimmer ging, sah ich sie erwartungsvoll an. Sie sagte gar nichts. Als eine Schwester zum Pulsfühlen kam, fragte ich sie, ob ich nicht für eine Untersuchung vorgesehen sei. Sie sagte gar nichts. In meiner Verzweiflung fragte ich schließlich Eleanor, ob sie meinte, daß ich zur Untersuchung käme. Sie antwortete: „Nach der Hausordnung besteht die Möglichkeit , daß man nach drei Monaten Beschäftigungstherapie bekommt und aufstehen darf. Das heißt, daß irgendwann nach drei Monaten eine Untersuchung kommt. Es kann heute sein – es kann in sechs Monaten sein.“
Ich wußte, daß sie wahrscheinlich recht hatte; aber ich hätte am liebsten mit einem schweren Gegenstand nach ihr geworfen. Nur, weil sie immer so recht hatte, so erhaben war über meine kindischen Anfälle von Begeisterung und Kleinmut. Wenn ich etwas Nachteiliges über eine der Schwestern sagte, was ich oft tat, sah mir Eleanor immer ins Gesicht und sagte mit steigendem Tonfall „So?“ Dann bekam ich unweigerlich Lust, irgendwas ganz Dummes zu tun, zu schreien, daß alle Schwestern Prostituierte seien und ich das beweisen könne. Eleanors völlige, vorbildliche Anpassung an die Routine im Fichtenhain machte meine mangelhafte Eingewöhnung achtmillionenmal auffälliger und schob mich auf das geistige Niveau von „Mein Papa ist Schutzmann und wird dich kriegen“.
Abgesehen davon, daß sie mich reizte, hatte Eleanor eine raffinierte Art, mich kleinzukriegen, mir alle Freude zu verderben. Als ich mich an einem Besuchstag schminkte, sagte sie: „Ich finde, wenn eine Frau mal ein gewisses Alter erreicht hat, sollte sie nicht mehr versuchen, an der Natur herumzukorrigieren.“ Ich hätte mir ihr gelbliches Gesicht, die gelblichen Augen, das gelbliche Haar und die gelblichen Zähne ansehen und den Anlaß bedenken sollen. Statt dessen wurde ich rot, kam mir wie siebzig vor, wie eine alte Schraube auf jugendlich und kohlte ihr vor, wie ich es haßte, mich zurechtzumachen, daß ich es aber täte, um meiner Mutter, die auf der Bühne gewesen sei, eine Freude zu machen.
Trotz Eleanors Dämpfer, daß ich vielleicht von einer Woche bis zu mehreren Jahren auf eine Untersuchung warten müsse, fuhr ich den ganzen Vormittag hoch, wenn ein Rollstuhl vorbeikam, und hielt bis zu den Ruhestunden unentwegt an der Hoffnung fest. Nach der Ruhezeit wußte ich, daß nichts mehr zu erwarten war, und versuchte, es Eleanor gleichzutun und mich mit der Tatsache abzufinden, daß ich vielleicht für den Rest meines Lebens im Fichtenhain bleiben würde. „Wenigstens werde ich unter ärztlicher Aufsicht durch die Wechseljahre kommen,“ redete ich mir gerade tapfer lächelnd ein, als eine Schwester mich mit einem Rollstuhl holte und eine Untersuchung gemacht wurde. Eine gründliche Untersuchung von einem der Anstaltsärzte, der mir am Schluß sagte, daß ich eine Stunde Beschäftigungstherapie haben und drei Stunden aufstehen dürfe.
Ich war beinahe hysterisch vor Freude, wäre am liebsten zurückgelaufen und hätte Eleanor „ätsch, ätsch, ätsch!“ ins Gesicht gerufen. Statt dessen erzählte ich ihr ruhig von meinen Glück, weil ich daran dachte, daß sie seit zwei Jahren völlige Bettruhe hatte. Sie sah noch nicht einmal von ihrer Strickerei auf. Sie strickte eine Reihe ab, wechselte bedächtig die Nadeln und meinte: „Mir scheint, die wollen Sie für eine Operation stärken.“
Am nächsten Morgen war ich zum erstenmal auf – saß fünfzehn Minuten im Bett – und bekam Besuch von der Beschäftigungstherapie-Lehrerin, einer Patientin namens Coranell Planter. Coranell gab mir eine weiße Karte, auf der ich meine Beschäftigungstherapie-Zeit notieren mußte. Sie fragte: „Sie haben eine Stunde, ja? Wenn Sie also von 9 bis 9 Uhr 15 häkeln, schreiben Sie das hin. Und wenn Sie von 2 bis 2 Uhr 30 sticken, schreiben Sie das auch auf.“ Ich entgegnete: „Wenn ich von 2 bis 2 Uhr 30 sticke, kann ich lieber gleich meine Koffer packen, denn das ist die Ruhezeit.“ Sie
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