Einsam, zweisam, dreisam
unverhofften Phantasieblitze unternehmen. Eines Tages stellt er sich so was vor, springt mitten in der Vorlesung auf und schreit: «Nein, nicht!»
«Was ist?» Regina sieht ihn forschend an.
«Wieso, was ist?»
«Du hast eben nein, nicht gemurmelt.»
«Was hab ich?»
«Nein, nicht gemurmelt.»
«Das darf nicht wahr sein!»
«Was war denn los?»
«Nichts eigentlich. Es lief ein Film in meinem Kopf, und ich hab offenbar zu laut mitgespielt.»
«Weißt du was? Du bist süß! Daß Leute im Schlaf reden, wußte ich schon, aber daß man auch bei Tagträumen reden kann, ist mir neu.»
«Du würdest das vielleicht nicht so süß finden, wenn du den Traumfilm gesehen hättest.»
Ihm ist unwohl. Er fürchtet, sie könnte sagen: «Woher weißt du, daß ich ihn nicht gesehen habe?»
Und genau das sagt sie auch.
Sie scheint es zu genießen, wenn er verlegen wird. Wieder sitzen sie eine Zeitlang schweigend. Als er sich eine Zigarette anzündet und den ersten Zug inhaliert, reicht sie ihm eine zweite, noch brennende, die sie aus dem Aschenbecher genommen hat. Dieselbe Marke! Jetzt ist er offenbar völlig von der Rolle. Mit beiden Zigaretten in den Händen und einem belämmerten Blick im Gesicht sitzt er da und glaubt zu spüren, wie er rot wird. Es klingt fast mütterlich, als sie fragt:
«Mach ich dich verlegen?»
«Sehr.»
«Das gefällt mir.»
«Mir nicht.»
«Du bist dran mit beichten. Erzähl von dir.»
Sig nennt sich einen Versager, der nur deshalb existieren könne, weil seine Mutter einen etwas übersteigerten Gerechtigkeitssinn habe. Das Medizinstudium seines Bruders hat mehr gekostet als seine zehn Semester Kunstakademie, deshalb überweist die Mutter so lange noch sechshundert Mark im Monat, bis er gleichauf liegt.
Über einen Geschenkladen bekommt er gelegentlich Porträtaufträge. Dann überträgt er Fotografien in Rötel- oder Kohlezeichnungen und bekommt fünfzig Mark pro Gesicht. Und ein bißchen Geld verdient er mit Malstunden für Kinder.
Die gehen ihm zwar auf die Nerven, aber er liebt sie, wenn sie jedes zwölf Prinzessinnen, drei Astronauten, einen Taucher und vier bis acht Könige bei ihm abliefern. Und alle Bilder wollen sie ihm schenken. Oft hat er Mühe, sie zu überreden, ihrer Mama wenigstens einen Froschkönig mitzubringen.
Am besten gefällt ihm der Unterricht, wenn er sagt: «Nur Farben. Keine Sachen. Keine Könige, keine Rennfahrer, keine Polizisten. Nur Farben malen. «Dann legen die Kinder auf eine Weise los, daß er nur staunen kann über die Freiheit und Lust, mit der sie malen. Er beneidet sie um den regelfreien Raum, in dem sie ganz selbstverständlich die Stifte und Pinsel tanzen lassen. Er nimmt sich immer wieder vor, von ihnen zu lernen. Aber wenn er versucht, wie sie zu malen, geht es nicht. Er kommt nicht mehr dahin zurück.
«Jedenfalls, die Arbeit macht wirklich Spaß. Obwohl mich die Gören mit dem Krach, den sie dauernd machen, fast um den Verstand bringen.»
Regina meint, der Lärm könne der Preis dafür sein, daß er Spionage betreibe. Kunstspionage, sagt sie, wie Industriespionage.
Sie muß gehen. Das Walser-Seminar hat schon angefangen. Sie kommt wie immer zu spät. Aufgeregt winkt sie der Kellnerin mit ihrem roten Geldbeutel.
Sig wird panisch: «Können wir uns später noch sehen?»
«Heute nicht», sagt sie. «Ich bin bis abends an der Uni und dann bei einer Einladung. Morgen, wenn du willst. Zum Frühstück.»
Sie dreht sich nicht um. Ein bißchen tapsig, wie ein kleiner Bär, geht sie in ihrem dunkelblauen Dufflecoat, den roten Cordhosen und den rosa Turnschuhen am Eingang zur Tiefgarage vorbei, biegt links um die Ecke und ist verschwunden.
Sig hat eine große, weiche Wolke im Kopf. Obwohl er Schwabe ist, läßt er die endlich von der Kellnerin gebrachte Pastete einfach stehen, bezahlt und steht auf. Er geht in die entgegengesetzte Richtung davon. Die Wolke mit ihm.
Er geht rechts, links, geradeaus, einfach wie die Anblicke ihn locken. Er hat kein Ziel. Er platzt aus allen Nähten vor lauter Regina, Regina, Regina.
Sig ist nicht der einzige, der so um die Ecken stromert. Es ist ein lasziver Swing in den Leuten. Wer ein Auge dafür hätte, könnte eine Menge aufgeblähter Nüstern beobachten. Graumelierte Schläfen schimmern wie Perlmutt, wenn die Frühjahrssonne sie einfängt, und ein Flackern geht durch manche Rodenstock-Brille, wenn sich ein aberwitzig früh rausgekramter Minirock darin spiegelt.
Die Mädchen klappern mit Stöckeln und Wimpern,
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