Einsame Herzen
Lippen aufeinander.
Du hast keine Chance, den Winter hier oben zu überstehen, Mäuschen, das verspreche ich dir.
Danielle ballte die Hände zu Fäusten.
In dieser rauen Wildnis kannst du ohne den Schutz eines Mannes nicht überleben.
Entgegen ihrer Gewohnheit löste sich ein Fluch von Danielles Lippen. Es konnte doch nicht sein, dass Darko Coda Recht behalten sollte! Das durfte einfach nicht sein! Sie würde es schon schaffen! Irgendwie würde sie diesen Winter bestimmt hinter sich bringen. Sie würde die Vorräte einfach noch stärker rationieren als bisher, sie würde aus jedem einzelnen Gemüse, aus jedem Korn und jedem Häufchen Mehl so viel herausholen, wie sie nur konnte. Sie würde Suppe kochen, viel Suppe. Mit wenig Gemüse und viel Wasser liessen sich so die grössten Speisen hervorzaubern, Speisen, die erst noch rasch zur Sättigung führten.
Suppe hiess das Zauberwort, die Lösung all ihrer Probleme. Von wegen, sie würde hier oben nicht überleben können! Sie würde es Darko Coda schon zeigen, diesem Sexist, diesem elenden Chauvinist! Er glaubte doch nicht im Ernst, sie würde sich in den Bergen nicht zu helfen wissen, sie würde hier oben nicht zurechtkommen bloss weil sie eine Frau war? Ihn würde sie eines Besseren belehren, oh, ja!
Sie würde ihm deutlich vor Augen führen, wie falsch er lag. Sie würde ihm zeigen, wie haltlos seine Befürchtungen gewesen waren, wie unbegründet seine Annahmen, und wenn sie sich dafür den ganzen Winter über von Wasser und Gemüsehäppchen ernähren musste!
Kapitel 2
Der November neigte sich dem Ende zu und mit ihm Danielles Vorräte. Danielle konnte so sparsam kochen, wie sie wollte. Etwas mussten die Mädchen ja doch essen und es schien, als würden die beiden ausgerechnet in diesem Winter einen beträchtlichen Wachstumsschub durchmachen. Sie zeigten einen ungeheuren Appetit, fragten Danielle stets nach mehr und reagierten enttäuscht, wenn ihnen eine zweite Portion verwehrt wurde. Es schmerzte Danielle, Emma und Louise gezwungenermassen auf Diät zu setzen, doch sie konnte die Situation nun mal nicht ändern. Ihre Töchter reagierten unterschiedlich auf die Lebensmittelrationierung: Die zwölfjährige Emma beklagte sich nicht, nahm die kleinen Portionen schweigend hin, studierte Danielle aber nachdenklich aus ihren grossen Augen. Die siebenjährige Louise hingegen nahm kein Blatt vor den Mund. Sie bezeichnete ihre Mutter als "unfair und gemein", fand das Leben in den Bergen von einem Tag auf den anderen "schrecklich, öde und todlangweilig" und wollte endlich wieder zurück nach China fahren. Als Danielle Louise erklärt hatte, dass sie ganz bestimmt nicht zurück zu Papa fahren würden, war Louise in Tränen ausgebrochen und betont laut auf ihr Zimmer gepoltert. Es hatte eine gute halbe Stunde gedauert, Louise einigermassen zu beruhigen und zu trösten.
Und wer tröstete sie? Danielle trat ins Wohnzimmer, liess sich mit einem schweren Seufzer auf die Couch sinken. Wie sollte es bloss weitergehen? Sie konnte noch so sparsam kochen, niemand konnte sich nur von Wasser und Gemüsehäppchen ernähren. In einem trotzigen Aufbäumen hatte sie den Versuch unternommen, die Herausforderung zu meistern, hatte angenommen, sie könne sich und die Kinder schon irgendwie durch den Winter bringen. Wie aber hatte sie sich das vorgestellt? Es fiel täglich Schnee, die Temperaturen sanken nachts unter Null. Wenn sie annahm, der Felsenpfad, ihre Verbindung zur Aussenwelt, würde demnächst wieder begehbar werden, dann war sie eine hoffnungslose Träumerin. Es bestand nicht die geringste Chance, dass sie in den nächsten Tagen nach Domens fahren und sich die Vorräte zulegen konnte, die sie sich schon längst hätte anschaffen sollen und die sie so dringend brauchte: Vorräte, die sie und die Kinder sicher durch die kalten Wintermonate in den Frühling führen würden.
Sie konnte die Augen nicht länger vor der Realität verschliessen. Ohne die Kinder hätte sie sich möglicherweise mit einer täglichen Suppe durch den Winter hungern können, aber nicht mit Emma und Louise an ihrer Seite. Sie musste verrückt gewesen sein, als sie angenommen hatte, sie würde auch ohne fremde Hilfe zurechtkommen. Dieser Gedanke war reines Aufbegehren gewesen, nichts als ein Zeichen des Trotzes: Ein Aufbegehren gegen ihre Mutter und Schwester, vor allem aber gegen Darko Coda, dem sie es hatte zeigen wollen. Sie hatte allen beweisen wollen, wie falsch sie lagen, wie gut sie alles im Griff
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