Einsame Herzen
Schnee schmelzen würde, dass er ihr den Weg über den Felsenpfad in die Freiheit gewähren würde. Sie wünschte sich weit weg von hier, von diesem kalten Ort des Schreckens, wünschte sie wäre in einer Stadt, sie wäre unter Menschen, zurück in der Zivilisation.
In den Tagen, die dem Tod der Zwillinge folgten, sprachen Danielle und Darko nicht mehr miteinander. Sie richteten kein Wort an den andern und vermieden wenn immer möglich den Blickkontakt. Ihr Streitgespräch stand wie eine schwere, bedrohliche Gewitterwolke zwischen ihnen, ebenso der Tod der Zwillingsbrüder. Es verging kein Tag, an dem Danielle nicht an das schreckliche Gespräch zwischen ihr und Darko dachte, das Gespräch, das sie mit ihm geführt hatte, ehe er überstürzt das Haus verlassen hatte, den Revolver in der Hand. Sie hatte sich doch nur erkundigen wollen, was im Wald geschehen war, hatte ihn doch nur verstehen wollen. Doch er hatte sie kaltschnäuzig abgewiesen, hatte ihr vorgeworfen, das Duell zwischen ihm und dem Zwilling hätte sie nicht berührt oder nur deshalb interessiert, weil sie gehofft hatte, dass wenn möglich er und nicht der Zwilling zurückkehren würde. Seine Worte hatten sie zutiefst verletzt, ganz zu schweigen von seinem schauerlichen Lachen. Erst noch hatte er sie zärtlich geküsst, sie gefragt, ob sie immer so sanft sein. Im nächsten Moment aber war er kühl und unnahbar geworden.
Was glaubst du wohl? Dass ich über dich und die Kinder herfalle?
Kühl, unnahbar und unnötig grausam. Seit diesem Tag, an dem er aus dem Haus gestürmt war, um den zweiten Zwilling... Seit diesem Tag war ihre anfängliche Furcht vor ihm zurückgekehrt. Danielle begegnete Darko vorsichtig und misstrauisch, wich ihm aus wo immer sie konnte und hielt die Distanz zwischen ihr und ihm so gross wie möglich. Darko schien das nur recht zu sein. Er hatte jedenfalls keinen Versuch gestartet, die angespannte Atmosphäre zwischen ihnen aufzulockern.
An einem strahlenden Nachmittag im Dezember, etwa ein Woche, nachdem Darko Danielle so vor den Kopf gestossen hatte, sass sie auf der Couch, Emma und Louise an ihren Seiten. Sie las den beiden aus dem Buch "Zeyna, das Zaubermädchen" vor. Sie erzählte die Geschichte in einem gedämpften, sanften Murmeln. Sie hielt ihre Stimme absichtlich leise, um Darko nicht zu stören. Er sass am Wohnzimmertisch, wo er sich ebenfalls in ein Buch vertieft hatte. Im Kamin loderte ein wärmendes Feuer. Draussen schien die Sonne und tauchte den Feuerberg in ein weiches, warmes Licht. Die Atmosphäre war so ruhig und freundlich, dass sie einem vergangene Schrecken beinahe vergessen liess. Die Stimmung im Wohnzimmer zeugte von Gemütlichkeit und Geborgenheit. Alles deutete darauf hin, dass die vier Leute im Wohnzimmer in friedlichem Einklang zusammen lebten. Nur all zu leicht hätte man annehmen können, dass im Wohnzimmer Vater, Mutter und ihre beiden Töchtern zusammensassen, ihre Gesellschaft genossen und sich in ihrem trauten Heim wohl fühlten.
Nur wer genauer hinsah, bemerkte dass die Harmonie nicht so perfekt war, wie sie schien. Wer noch weiter an der Oberfläche kratzte, bemerkte, dass es mit Harmonie überhaupt nicht weit her war.
"... und noch am selben Tag fragte Zeyna ihre Mutter, ob sie sie auf das Schloss begleiten dürfe", las Danielle gerade vor. Sie wusste nicht weshalb, doch nach diesem Satz legte sie eine kaum merkliche Pause ein. Sie hob den Blick über den Buchrand hinweg. Sie sah zu Darko und erstarrte, als sie geradewegs in seine eisblauen Augen blickte. Auch er hatte von seinem Buch aufgesehen und hatte sie im selben Moment betrachtet, wie sie ihn.
Danielle schluckte schwer. Das leise Knistern des Feuers riss sie aus ihrer sekundenlangen Starre. Schnell senkte sie den Blick wieder auf ihr Buch. Sie las weiter, kämpfte sich Satz für Satz über eine ganze Seite, wobei sie stets den unerklärlichen Drang verspürte, einen Blick in Darkos Richtung zu werfen. Sie unterdrückte diesen Impuls, bis sie am Ende der Seite angelangt war und blättern musste. Nun bot sich ihr eine Möglichkeit aufzusehen. Sie hob den Kopf und musterte Darko verstohlen. Er hielt den Kopf gesenkt, konzentrierte sich auf sein Buch. Doch plötzlich sah er auf, als hätte er ihren Blick auf sich gespürt. Seine Augen trafen die ihren, gruben sich in die ihren und hielten sie fest. Es lag weder Freundlichkeit noch Feindseligkeit in seinem Blick. Er starrte sie einfach nur mit einem undefinierbaren Funkeln an.
"Ma, weiter,
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