Einsame Spur (German Edition)
lächelte Vaughn an, der Blick aus den fuchsbraunen Augen war warm – von allen Rudelgefährten waren die Heiler diejenigen, die keine Schwierigkeiten damit hatten, mit anderen Rudeln zusammenzuarbeiten, und von ihnen auch willkommen geheißen wurden, wenn sie sich gerade feindlich gesonnen waren. »Hallo, Vaughn. Wie geht es Faith?«
»Ich soll mich für die Fotos bedanken, die sie von dir bekommen hat.«
Lara winkte ab. »Ihre Vorhersage hat den Jungen das Leben gerettet – sie hat ein Anrecht darauf.«
Vaughn nickte schweigend.
»Willst du mitkommen oder dich zu den anderen Soldaten gesellen?«
»Ich komme mit.«
Lara nickte und führte sie zur Krankenstation, dabei brachte sie Sascha auf den neusten Stand der Befunde. »Das einzig Gute ist diese kleine Veränderung der Gehirnaktivität«, sagte sie. »Doch sie ist so winzig, dass es sich auch um eine normale Abweichung handeln könnte.« Sie wies auf die offene Tür eines Krankenzimmers. »Da geht’s zu Alice.«
»Ich warte draußen«, sagte Vaughn und stellte sich als Wache an die Tür.
Sascha folgte Lara in das Zimmer. Wie immer lag Alice absolut ruhig unter der weichen Decke, auf dem Kopf eine Kappe, an der Elektroden ihre Gehirnströme verfolgten. Unter der Decke kamen dünne Schläuche hervor. Allerdings atmete sie selbstständig, ihr Oberkörper hob und senkte sich so sacht, dass man die Bewegung leicht hätte übersehen können, wenn nicht der Rest des Körpers so ungewöhnlich still gelegen hätte.
Saschas Aufmerksamkeit galt dem zarten Gesicht. Feine Falten zeugten von einer Anspannung, als würde Alice einen inneren Kampf ausfechten, als versuchte sie, einen Weg hinaus zu finden. »Ich spüre sie. Die Gefühle sind nur schwach, aber eindeutig vorhanden.« Sascha wollte sie verstärken, denn sie hatte ihre Fähigkeiten darin geschult, nachdem sie in dem bahnbrechenden Buch, das Alice vor mehr als hundert Jahren geschrieben hatte, etwas über diese Technik gelesen hatte.
Die stärkste und wohl einzigartige Gabe der Empathen ist es, Emotionen zu dämpfen. In meiner Abhandlung habe ich schon erwähnt, wie man diese Fähigkeit nutzen kann – und auch schon genutzt hat –, um Aufruhr unter Kontrolle zu bekommen, oder aber auf umgekehrtem Wege auch Gefühle zu verstärken. Jedoch zehrt ein solches Unterfangen die Empathen aus, und selbst kardinale Empathen können nur kurze Zeit, etwa drei bis sieben Minuten, aktiv unterstützend mitwirken.
Alice hatte nicht beschrieben, wie sich die empathischen Fähigkeiten auf geistiger Ebene genau auswirkten, denn ihr ging es mehr um eine anthropologische Untersuchung der Kategorie. Deshalb konnte Sascha nur Vermutungen darüber anstellen, aber dem Buch keine praktische Anleitung entnehmen. Bei ihrem ersten Versuch, eine Gruppe von Freiwilligen zu kontrollieren, war sie innerhalb weniger Minuten völlig erschöpft gewesen.
Erst später war ihr bewusst geworden, dass sie versucht hatte, den Leuten andere Gefühle einzugeben, statt die Emotionen der Gruppe zu dämpfen. Immerhin ein Anfang. Noch hatte sie nicht herausbekommen, wie das mit dem Dämpfen funktionierte, aber sie bekam es hin, Gefühle zu verstärken. »Ich wünschte, ich hätte einen Lehrer, statt so im Dunkeln herumzutappen.« Es war ungemein frustrierend, dass sie nicht wusste, wie sie ihrer Kraft Gestalt verleihen konnte.
»Du weißt doch schon mehr als alle Empathen dieser Welt zusammengenommen – setz dich nicht so unter Druck.« Lara drückte mitfühlend Saschas Arm und sah sich die Kontrolltafel am Bettende an. »Die Aufzeichnungen zeigen keine Störungen. Du kannst anfangen, wenn du so weit bist.«
Sascha atmete langsam aus, um sich zu zentrieren, ergriff dann Alices blasse Hände und schloss die Augen. Bevor sie allerdings beginnen konnte, musste sie alle Gefühle in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft identifizieren, um so etwas wie eine Basis zu haben, von der sie ausgehen konnte. Da waren Laras Konzentration und ihre Sorge, Vaughns Aufmerksamkeit und Neugier sowie die tiefe Freundschaft zweier Gestaltwandler in einem anderen Krankenzimmer.
Nun wandte Sascha ihre Konzentration wieder Alice zu.
Frustration schlug ihr entgegen.
Klar und deutlich, doch so schwach, dass sie sich anstrengen musste, sie überhaupt zu fühlen. Vorsichtig löste sie das Gefühl heraus und tat, was sie sich bisher nur theoretisch überlegt hatte: Sie drängt Alice kein Gefühl auf, sondern »summte« gefühlsmäßig in Resonanz zu Alices Frustration.
Wenn
Weitere Kostenlose Bücher