Einsamen
hatte bereits bei der Abfahrt in Uppsala angefangen, ein Reisetagebuch zu führen. Anna auch, sie tat dies mit etwas mehr Ernst und dem Gedanken an eine größere Reisereportage. Von der Zeitschrift Vi und auch von Dagens Nyheter hatte sie eine halbe Zusage bekommen, keine größeren Versprechungen hinsichtlich eines Honorars, sie wollten natürlich erst das Resultat in den Händen haben. Anna war schließlich nur eine Studentin an der JHS im zweiten Jahr, noch kein anerkannter Name in Reporterkreisen. Für alle Fälle hatte sie einen neuen Fotoapparat gekauft, eine Nikon, ein Reisebericht ohne Fotos, das war undenkbar. Und wenn Rickards Aufzeichnungen und Reflexionen in irgendeiner Weise von Nutzen sein konnten, dann war das nur von Vorteil.
Sie waren zu zweit, sie waren frisch verheiratet. Die Welt mit ihren unbegrenzten Möglichkeiten stand ihnen offen.
Am ersten Tag erreichten sie die Stadt Jelena Góra. In der Dämmerung, sie waren mehr oder weniger den ganzen Tag gefahren – mit Tomas und Germund abwechselnd am Lenkrad. Germund war es gelungen, innerhalb nur weniger Wochen einen Busführerschein zu erlangen, es war natürlich nicht schlecht, sich beim Fahren abwechseln zu können. Im Prinzip konnten sie so Tag und Nacht die Räder rollen lassen, wenn sie wollten.
Was sie natürlich nicht wollten. Es ging ja gerade darum, anzuhalten, sich Zeit zu nehmen und die Eindrücke auf sich wirken zu lassen. Zu begreifen, wie es war, in einer sozialistischen Wirklichkeit zu leben. Zu registrieren und zu erleben. An diesem ersten Tag machten sie für ein paar Stunden Halt in Posen, um sich mit Proviant zu versehen, vor allem mit Obst und Getränken und trockenen Speisen, es gab im Bus keine Kühlmöglichkeit, aber der Ostblock war natürlich eine Gesellschaft, die alles bot, was die Bürger sich an frischen Waren wünschten. Genauso wie andere Gesellschaften. Etwas anderes zu glauben, zeigte nur imperialistische Vorurteile. Milch und Butter und so etwas konnten sie jeden Morgen frisch kaufen, sie waren zu sechst und schafften es problemlos, alles vor dem Abend und bevor es verdorben war, zu verzehren. Oder anders herum, die Lebensmittel für das Abendessen und das nächste Frühstück am Abend zu kaufen und so die nächtliche Kühle auszunutzen.
Außerdem hatten sie sich in Posen Bier und Wodka besorgt, zu einem fast lächerlich günstigen Preis, und als sie auf dem Campingplatz in der lauen Dämmerung der Nacht mit Essen und Trinken um ein Lagerfeuer saßen – während die weiche Stimme einer fremden polnischen Sängerin aus dem Transistorradio strömte –, da war das Wort »magisch« nicht fern.
»Danke, Tomas«, sagte Anna. »Danke, dass du die Idee zu dieser Reise hattest. Wir werden unseren Horizont gehörig erweitern. Es ist ein phantastisches Gefühl, dabei zu sein, findet ihr nicht auch?«
Sie lachte, denn sie war leicht betrunken. Rickard ertappte sich dabei, dass er sich wünschte, sie wäre das häufiger, sie wurde dann so viel lockerer. Er trank einen Schluck Bier, aß ein Stück Wurst mit Brot und dachte, dass er gern die Zeit anhalten würde. Genau hier und jetzt.
»Esst und trinkt, liebe Freunde«, sagte Tomas und zündete sich eine Zigarette an. »Vor allem esst jetzt, denn die Wurst wird morgen tödlich sein.«
»Bist du dir sicher, dass sie nicht jetzt schon tödlich ist?«, fragte Rickard.
»Bier ist billiger als Wasser«, stellte Germund fest. »Es gibt keinen Grund, daran zu sparen.«
»Könnt ihr Sängerknaben nicht etwas Stimmungsvolles singen?«, schlug Maria vor. »Dann drehe ich dieser polnischen Nachtigall den Saft ab.«
»Den Sommerpsalm«, bat Gunilla, »dann können wir anderen mitsingen.«
Und das taten sie. Vierstimmig erklang » En vänlig grönskas rika dräkt ut« in der Dunkelheit, Rickard spürte, wie Annas Hand sich an der Innenseite seines Schenkels hochtastete, und er fühlte, dass er diesen Augenblick – diesen Abend auf einem unbekannten Campingplatz am Rande der polnischen Stadt
Jelena Góra – niemals vergessen würde.
Sie liebten sich so leise, wie sie es noch nie getan hatten, und als Anna eingeschlafen war, zog er sich seinen Trainingsanzug und seine Turnschuhe an und schlich sich aus dem Bus.
Pinkelte hinter einem Busch und blieb dann still stehen und lauschte in die Dunkelheit. Kröten, die quakten, Wasser, das rieselte, das war alles, was er hören konnte. Der halbleere Campingplatz lag an einem langgestreckten Abhang zum plätschernden Bach hin, er
Weitere Kostenlose Bücher