Einsamen
seiner Wohnung gewesen. Vermutlich auch um elf Uhr, wenn es stimmte, dass die Schwestern Zetterlund in ihrem Erker oben gesessen und Karten gespielt, und dabei mindestens zwei Adleraugen auf die Straße gerichtet hatten.
Am folgenden Morgen, dem letzten in seinem Leben, hatte ihn jemand von einer nicht auffindbaren Nummer aus angerufen. Um zwanzig nach sieben.
Selbstmord?, fragte Inspektor Backman. Vergiss es.
Unfall? Vergiss auch das.
Zwei Fragezeichen also abgehakt, stellte sie fest.
Doch die neuen, die stattdessen hervorkamen, waren umso verbogener, und während der gesamten Fahrt zurück nach Kymlinge schlug sie sich die Stirn an ihnen blutig.
Bildlich gesprochen.
33
S ie kamen frühmorgens am 24. Juli am Fährterminal von Swinemünde an. Keiner von ihnen hatte während der langen Überfahrt viel geschlafen, aber dennoch überfiel Rickard Berglund ein Gefühl extremer Wachheit, als er durch das Busfenster die fremden, schmutziggrauen Gebäude des Hafengeländes betrachtete. Abgesehen von einigen kürzeren Aufenthalten in Dänemark und Norwegen war es das erste Mal in seinem Leben, dass er sich außerhalb von Schwedens Grenzen befand, und etwas, das vielleicht als leiser Jubel bezeichnet werden konnte, wuchs in seiner Brust.
Er dachte außerdem, dass es einer Stimmung ähnlich war, die ihm aus seiner Kindheit einfiel. Genauer gesagt aus der Zeit, als er zwölf Jahre alt war, dem Sommer zwischen der Volksschule und der Realschule. Er war mit der Familie seines Klassenkameraden Sune zu deren Sommerhaus in der Gegend von Malung gefahren, und diese Autoreise, ja, die Erinnerung daran, war noch ganz deutlich. Wie Sune und er mit einem Haufen von Comic-Heften auf der Rückbank des schwarzen Pkw der Familie Stridsberg gesessen hatten, auf dem Weg durch unbekannte Wälder, den Mund voll mit Trixi und Tuttifrutti – und da, da hatte er dieses Gefühl eines beginnenden Abenteuers in sich ticken gespürt. Das gleiche Gefühl wie jetzt.
Aber jetzt war er ein erwachsener Mann. Doppelt so alt wie damals ungefähr – frisch verheiratet und auf halbem Weg zur Priesterweihe. Also in einem viel späteren Stadium des Lebens, wenn man mit Kierkegaard sprechen wollte. Dennoch war es genauso überwältigend, dieses verführerische Empfinden oder wie man es nun nennen wollte: das Abenteuer, das Unbekannte, die Freiheit und alle unvorhersehbaren Erlebnisse, die um die Ecke warteten.
Kindisch oder nicht, er gab sich gar keine Mühe, die leichte Erregung zu unterdrücken. Carpe diem , dachte er, und als er verstohlen seine Reisebegleiter betrachtete, erkannte er, dass es ihnen genauso ging.
Tomas hinterm Steuer. Gunilla auf dem Beifahrersitz daneben, mit einer großen Karte auf dem Schoß ausgebreitet und einer halb gegessenen Banane in der Hand. Anna, sie saß Rücken an Rücken mit ihm auf ihrem autobus-pied-à-terre. Maria war diejenige, die diesen Begriff erfunden hatte, alles klang besser auf Französisch, wie sie behauptet hatte, und dem konnte man eigentlich nur zustimmen. Dabei ging es einfach nur um einen großen Holzkasten mit einer Matratze und Kissen darauf, Stauraum darunter. Maria und Germund hatten genauso einen ganz hinten im Bus. Tomas und Gunilla wohnten auf einem dritten vorn, das war rustikal, aber praktisch. Sie hatten außerdem querlaufende Gardinen angebracht, um nächtens private Territorien schaffen zu können, aber jetzt waren diese an der Decke befestigt, es war ja früher Morgen.
Ja, der erste Morgen in einem fremden Land war es, auf einer Reise, die mindestens fünfunddreißig Tage und fünfunddreißig Nächte dauern und sie in Länder und an Orte führen sollte, die bis jetzt – bis zu diesem Julimorgen im Jahre des Herrn 1972 – nicht viel mehr als leere Namen und abstrakte Begriffe für sie waren. Man kann erst wissen, ob Rom tatsächlich existiert, wenn man dort war und es gesehen hat, wie Germund festgestellt hatte, und das stimmte vermutlich, wie so vieles andere auch.
Aber zuallererst Swinemünde und Stettin! Sie hatten eine nächtliche Stunde im Café der Fähre verbracht, Sauerkraut und etwas, das Bigos hieß, gegessen, Bier getrunken und versucht, diese Konsonantenungeheuer auszusprechen. Ein angetrunkener Lkw-Fahrer namens Marek hatte ihre ungeübten Zungen angeleitet und ihnen in gebrochenem Englisch so einiges über Polen erzählt, das erste Land, das auf sie auf der anderen Seite der Ostsee wartete.
Und dann: Prag. Der Balaton. Budapest. Wien. Zagreb. Etcetera, etcetera. Rickard
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