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Einsamen

Einsamen

Titel: Einsamen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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vor Schluchzen. Eine Weile passierte sonst nichts. Rickard nahm seine Hand von Annas Schulter und schaute auf die Uhr.
    Sie hatten noch zwölf Minuten.
    »Wir müssen versuchen zusammenzuhalten«, sagte Tomas. »Es wird nichts besser, wenn wir miteinander streiten.«
    »Gut«, sagte Maria. »Wir halten zusammen. Also leisten wir Widerstand.«
    »Ich weiß nicht so recht«, sagte Tomas. »Ich bin mir nicht sicher, ob das die beste Lösung ist. Was meinen die anderen?«
    »Ich meine …«, setzte Rickard an, doch dann wurde ihm klar, dass er nicht wusste, was er eigentlich meinte. Oder vielleicht meinte er auch etwas, konnte es aber nicht aussprechen.
    »Was denkst du selbst?«, fragte Anna. Sie richtete sich an Tomas, nicht an Rickard. »Das wäre interessant zu hören. Du denkst also, wir sollten auf ihre Forderung eingehen?«
    »Das habe ich nicht gesagt«, sagte Tomas. »Ich habe nur gesagt, dass es ein Fehler sein kann, sich einfach nur zu weigern.«
    »Einfach nur weigern?«, sagte Maria. »Und was zum Teufel bedeutet das?«
    »Ich meine nur, dass wir es durchsprechen sollten«, sagte Tomas. »Dass alle sagen, was sie denken, bevor die Männer zurück sind. Es ist ja eine schreckliche Situation, aber genau genommen kann niemand von uns etwas dafür. Wir sind Opfer von etwas, das wir nicht kontrollieren können. Niemand trägt daran die Schuld, und wir müssen versuchen, uns zusammenzureißen.«
    »Okay«, sagte Maria. »Ich habe mich zusammengerissen. Und natürlich sind alle Frauen der Gruppe genauso gefasst. Gunilla, Anna und ich. Eine von uns wird gleich eine Stunde lang von vier Soldaten vergewaltigt. Ist doch klar, dass wir verdammt gefasst sind. Was denn sonst.«
    Gunilla stieß einen Schrei aus und ließ sich auf den Boden fallen. Tomas machte einen hilflosen Versuch, sie hochzuheben, dann ließ er sie liegen.
    »Guckt doch nur, wie gefasst und gut gelaunt Gunilla ist«, stellte Maria fest. »Sie wird doch bestimmt hinterher genauso ruhig und gut drauf sein.«
    »Halt die Schnauze, Maria!«, schrie Tomas. Rickard konnte sehen, wie er die Fäuste ballte und eine Ader an seiner Schläfe hervortrat. Er wusste, er sollte etwas tun, etwas sagen oder versuchen, irgendwie zu helfen, aber das, was Anna ihm zugezischt hatte, hatte ihn verstummen lassen. Sie hatte ihn aufgefordert, zur Hölle zu gehen. Er wusste nicht, warum, vielleicht wollte er es auch gar nicht wissen. Vielleicht ahnte er in seinem tiefsten Inneren, dass sie Recht hatte, dass er sie irgendwie hätte beschützen müssen, aber wie? Wie hätte er sie beschützen können? Später, dachte er, wenn das hier vorüber ist – auf irgendeine geheimnisvolle Art und Weise vorüber sein wird –, muss ich mit ihr darüber reden. Sie hatte ihn angeklagt, ihm ein bleischweres, ungerechtfertigtes Gefühl von Schuld aufgebürdet, aber natürlich … natürlich war nicht er es, den sie zur Hölle wünschte, das war ganz einfach eine Art Projektion … ja, wenn dieser Albtraum vorbei war, dann würden sie das alles klären.
    Aber jetzt, genau in diesem Moment, während sie sich in diesem widerlichen Raum befanden, während die Sekunden und Minuten verrannen und keine Lösung in Sicht war, da fand er keine Worte. Keine Worte von Bedeutung.
    Er saß jetzt auf der Bank, den Kopf schwer in die Hände gestützt. Tomas und Anna standen. Gunilla lag auf dem dreckigen Boden und wiegte sich hin und her, während Maria und Germund reglos dasaßen, wie sie es die ganze Zeit getan hatten.
    »Ich nehme an, dass wir keine Freiwillige finden«, sagte Tomas, und da ging Maria zu ihm und spuckte ihn an.
    Hinterher konnte Rickard nicht mit Sicherheit sagen, wie die Idee zustande gekommen war, aber es musste sich um so eine Art kollektiver Einigkeit gehandelt haben. Trotz allem. Vielleicht gab es keinen anderen Ausweg. Vielleicht sah jeder für sich ein, dass sie auf diese Art eine Form von Würde behalten würden. Man fasste einen Beschluss, überließ es dann aber dem Zufall. Den Folterknechten und dem Zufall.
    Solidarität?, dachte Rickard.
    Nach seiner Uhr waren weniger als drei Minuten übrig, als sie das Los entscheiden ließen.
    Drei Streichhölzer, eines davon abgebrochen. Tomas hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand versteckt, und die Mädchen zogen der Reihe nach.
    Zuerst Anna.
    Ein ganzes Holz. Rickard sah, dass sie nur schwer ihre Erleichterung verbergen konnte. Ihm ging es genauso. Wenn sie es gewesen wäre, dachte er … wenn sie es gewesen wäre,

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