Einsamen
konnte sie ebenso gut in ihrem hübschen Wohnzimmer in der Grimsgatan tun wie in dem bedeutend hässlicheren Dienstloch in der Norra Långgatan.
Der Grund, dass sie verschlafen hatte, war sicher, dass sie nicht vor Mitternacht aus Strömstad nach Hause gekommen war und dass es dann noch einmal zwei Stunden gedauert hatte, bis es ihr gelungen war, einzuschlafen. Letzteres hatte auch seinen Grund, zumindest bildete sie sich das gern ein.
Sie machte sich ein Frühstückstablett mit acht gesunden Ingredienzien und ungefähr ebenso vielen ungesunden zurecht, ließ sich auf dem Sessel mit Blick auf den Stadtpark nieder und schaltete das Aufnahmegerät ein. Spulte einige Male vor und zurück, bevor sie die richtige Stelle fand.
EB:Dann sind Sie also mit etwas gemischten Gefühlen an diesem Samstag zum Rödåkra-Pfarrhof gefahren?
GW:Ja, das kann man so sagen.
EB:Da Ihre Beziehung zu Maria Winckler, Ihrer Schwägerin, etwas angespannt war?
GW:Ja, aber ich wusste es nicht so genau. Wir hatten im letzten Jahr nur äußerst wenig Kontakt zueinander gehabt.
EB:Woran lag das?
GW:Was?
EB:Dass Sie so wenig Kontakt hatten.
GW:Das kann ich nicht sagen.
EB:Warum können Sie das nicht sagen?
Keine Antwort .
EB:Ich interpretiere das so, dass es einen bestimmten Grund dafür gibt, dass die Beziehung zwischen Ihnen und Maria Winckler nicht so gut war, Sie aber nicht erzählen wollen, worum es dabei ging.
GW:Ja. Ja, das ist richtig.
EB:Und warum wollen Sie das nicht erzählen?
Langes Zögern .
GW:Wir haben das so abgemacht.
EB:Wer? Was haben Sie abgemacht?
GW:Wir anderen. Dass wir nicht darüber reden. Es hat sowieso nichts mit dem Unfall zu tun.
EB:Und worüber wollten Sie nicht reden?
GW:Genau das ist es ja, was ich nicht erzählen kann.
EB:Es handelt sich um eine fünfunddreißig Jahre alte Abmachung. Zwei Menschen sind tot, vielleicht ermordet. Anna Berglund lebt auch nicht mehr. Wie viele von Ihnen haben diese Abmachung unter sich ausgemacht?
GW:Fünf.
EB:Elisabeth Martinsson nicht?
GW:Nein.
EB:Sie und Ihr Mann und Rickard Berglund. Es sind nur noch drei übrig, nicht wahr?
GW:Ja.
EB:Dann fordere ich Sie jetzt auf, mir zu erklären, worum es geht. Wenn Sie das nicht tun, dann muss ich Sie mit aufs Polizeirevier von Kymlinge nehmen.
Sie schaltete das Gerät aus. An diesem Punkt war Gunilla Winckler-Rysth in Tränen ausgebrochen. Das hatte mehrere Minuten gedauert, und als der Tränenfluss langsam versiegte, hatte sie berichtet, worum es ging. Oder worum es ihrer Meinung nach ging.
Eine Gruppenvergewaltigung.
In Rumänien.
Im Sommer 1972. Die Täter waren vier unbekannte Soldaten, vielleicht auch Wächter irgendeiner Art oder aber Polizisten.
Das Opfer war Maria Winckler gewesen.
Doch das eigentlich vorgesehene Opfer, das war Gunilla gewesen. Maria hatte ihren Platz eingenommen.
Sich geopfert.
Es hatte lange gedauert, das ans Tageslicht zu bekommen. Viele Pausen. Viele Heulkrämpfe. Backman hatte das Band laufen lassen, aber zum Schluss war es nicht mehr nötig. Sie hatte es abgestellt.
Warum?, hatte sie gefragt.
Warum um alles in der Welt hatte Maria sich geopfert?
Gunilla wusste es nicht.
Hatte sie sich freiwillig von vier Soldaten vergewaltigen lassen?
Ja. Aber ich hätte es eigentlich sein sollen. Wir haben das Los gezogen, und ich habe verloren.
Ihr habt das Los gezogen?
Ja. Sie wollten eine von uns. Das war die Bedingung.
Sie konnte Marias Opfer nicht erklären. Damals nicht und auch nach achtunddreißig Jahren nicht. Aber Maria war hinterher nicht mehr dieselbe gewesen. Sie war schon vorher merkwürdig gewesen, aber hinterher war sie unbegreiflich geworden. Unbegreiflich und widerlich.
Laut Gunilla Winckler-Rysth.
War sie so unbegreiflich und widerlich, dass Sie sie in die Gänseschlucht gestoßen haben?
Nein, nein, nein und wieder Tränen.
Glauben Sie, jemand anders hat es getan?
Nein, nein, nein.
War das der Grund, dass Sie keinen Kontakt mehr zueinander hatten?, hatte Backman zum Schluss gefragt. Nach dem Sommer 1972?
Ich denke schon.
Und warum haben Sie beschlossen, nicht darüber zu sprechen?
Weil Maria nicht darüber reden wollte. Und wir anderen auch nicht, wir haben es nie wieder erwähnt. Und es hatte auch nichts mit dem Unfall 1975 zu tun, das hätte nur unnötig alte Dinge wieder aufgewühlt. Wir waren uns einig darüber, auch in Zukunft darüber zu schweigen. Es wurde eine Art Tabu.
Ein Tabu?
Ja.
Woher können Sie wissen, dass das nichts mit dem Unfall zu tun
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