Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Einsamen

Einsamen

Titel: Einsamen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
Vom Netzwerk:
hat?
    Auf diese Frage hatte Gunilla Winckler-Rysth nicht geantwortet. Nur den Kopf geschüttelt.
    Das tat Inspektorin Backman auch, einen Tag später. Schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und wechselte das Band im Aufnahmegerät.

70
    M it der Zeit erfüllte ihn ein merkwürdiges Gefühl.
    Vielleicht ist es Gott, dachte er. Jedenfalls war es eine intensive Nähe.
    Etwas, das dem Augenblick ein Gewicht gab, diesem Moment. Sechs Menschen draußen auf einer Gartenrallye um den Pfarrhof Rödåkra. An einem Samstagnachmittag im September, mit hohem blauem Himmel und einer Luft, klar wie Kristall. So windstill, dass nicht einmal das Spargelkraut sich
rührte.
    »Es ist schön hier«, sagte Gunilla.
    »Ja«, bestätigte er. »Es ist schön hier.«
    Sie unterhielten sich beim Gehen. Ruhig und ohne große Ansprüche. Begründeten die Fragen, die ihnen einfielen, diskutierten, lachten immer mal wieder und füllten ein, zwei Worte oder ein Kreuz in das Formular ein. Vielleicht ist sie auch von dieser Nähe erfüllt, dachte er. Von dem Moment an sich. Auf jeden Fall schien es sie nicht zu stören oder ihr unangenehm zu sein, nach so langer Zeit mit ihm hier herumzulaufen.
    Er erinnerte sich, wie sehr er sie bewundert hatte, als er sie kennengelernt hatte. Wie er Tomas beneidet hatte, das war, bevor er Anna traf. Bevor er überhaupt mit einem Mädchen richtig zusammen war. Es war erst sechs Jahre her, aber es erschien ihm wie ein ganzes Leben. Werden die nächsten sechs Jahre mich genauso sehr verändern?, fragte er sich. Und die darauf folgenden? Auf jeden Fall werde ich ein anderer Mensch sein, wenn wir das Jahr 2000 erreicht haben.
    Falls ich so lange lebe. Vielleicht liegt ja bereits ein neuer Weltkrieg auf der Lauer? Oder eine andere Art von Katastrophe. Man konnte wohl kaum erwarten, dass man noch ein ganzes Vierteljahrhundert in Frieden und Freiheit würde leben dürfen.
    Und der Moment wurde von diesen Gedanken nur noch schwerer und gewichtiger.
    »Dass ihr hier so wohnt«, sagte Gunilla. »Das ist wunderbar.«
    »Ja«, sagte Rickard. »Das ist wirklich wunderbar. Ist nur zu hoffen, dass man auch so klug ist, es zu würdigen.«
    »Ich glaube, das seid ihr«, sagte Gunilla. »Anna und du, ihr habt den Blick fürs Wesentliche.«
    »Glaubst du?«, fragte Rickard nach, und sie nickte.
    Vor ihnen ging das Geschwisterpaar. Tomas und Maria. Sie gingen etwas schneller, schienen intensiver in eine Diskussion vertieft zu sein, das war vielleicht auch nicht anders zu erwarten gewesen. Er sah sie immer mal wieder zwischen Wacholderbüschen und Schlehengestrüpp, und es schien nicht so, als könnten sie den Moment und die Nähe so richtig spüren. Der Spaziergang führte über einen Pfad durch die leicht hügelige Landschaft südlich des Pfarrhauses. Er war anderthalb Kilometer lang, das wurde auf der Holztafel am Anfang angemerkt, und es war Fräulein Bengtsson, die die Fragen für die Konfirmanden irgendwann Anfang des Sommers aufgehängt hatte. Im Garten Unseres Herrn, wie gesagt.
    Tiere und Natur und christlicher Glaube. Glücklicherweise ging es mehr um Tiere und Natur als um Glaubensfragen. Zumindest bis jetzt.
    Hinter ihnen, ein paar hundert Meter zurück, gingen Germund und Anna. Genießen sie den Moment, können auch sie dieses gute Gefühl spüren?, fragte er sich. Jeder auf seine Weise? Aus irgendeinem Grund zweifelte er daran, zumindest was Germund betraf. Aber Anna war auch nicht so recht zufrieden, das war den ganzen Tag schon zu spüren gewesen.
    Während er mit Gunilla plauderte, ließ er die Gedanken weiter frei fließen, das eine störte das andere in keiner Weise.
    Wir sind sechs Menschen, die eine Zeitlang hier auf dieser Erde wandern, stellte er fest. Nicht mehr und nicht weniger. Wir kennen einander aus verschiedenen Gründen, es könnten genauso gut sechs andere Menschen sein, die hier an diesem wunderschönen Herbsttag entlangspazieren.
    Aber jetzt sind wir es. Es hat sich halt so ergeben, dass wir sechs es sind, und in hundert Jahren sind wir alle tot. Wir sollten … wir sollten diesen Moment bewahren. Begreifen, dass wir hier und jetzt leben. So ein Herbsttag ist perfekt dazu geeignet, uns daran zu erinnern.
    Er überlegte, ob er etwas in dieser Richtung sagen sollte, wenn sie nachher am Tisch saßen. Von dem starken, warmen Gefühl, das ihn während der Gartenrallye erfüllt hatte. Sich zum Sprachrohr machen, wie es hieß. Gesetzt den Fall, dass die anderen das auch gefühlt hatten. Oder um sie daran zu

Weitere Kostenlose Bücher