Einsamen
hatte sie schon ein paar Mal gedacht.
Sie blieb schließlich stehen, ließ sich mit einem anderen Gedanken am Küchentisch niedersinken: Was würde sie sagen, wenn sie jetzt jemanden hätte, mit dem sie sprechen konnte? Das war eine gute Frage.
Hallo, mein ehemaliger Freund hat sich gerade totgefahren. Hast du Lust, auf eine Tasse Tee vorbeizukommen?
Ja, das würde wahrscheinlich klappen. Jeder würde sich in so einer Situation bereit erklären, aber darum ging es ja nicht. Sie brauchte nicht jeden. Und warum … warum sollte man den Tod wegreden? Warum sich einbilden, man könnte die Verzweiflung mit kleinen, lächerlichen Gesprächspflastern heilen? Mit Tee? Warum es überhaupt versuchen? Sich aufmuntern, indem man über etwas anderes sprach … warum zum Teufel sollte man an etwas anderes denken?
Warum nicht stattdessen den Tatsachen in die Augen sehen? Den Schmerz ohne Betäubung ertragen. Das einzig Sichere im Leben war der Tod, und jetzt war er zu Besuch gekommen. Mit ihm sollte sie sprechen, darum ging es.
Sie beschloss, niemanden anzurufen. Vielleicht betrachtete Lennart sie in irgendeiner Form aus seinem Selbstmörderhimmel, und vielleicht sollte sie ihm so viel Respekt erweisen, dass sie niemand anderen in ihre Trauer einband. Zumindest nicht in diesen ersten Stunden, dieser ersten Nacht. Warum nicht in aller Einsamkeit ein Glas trinken – aber nur eines –, hier am Küchentisch mit einer einzelnen brennenden Kerze sitzen und sich ganz einfach an ihn erinnern? Ja, warum nicht?
Und in dem Moment, als sie den ersten vorsichtigen Schluck trank, wurde ihr klar, dass sie gezwungen war, zum Begräbnis zu fahren.
Es wurde nicht so unerträglich, wie sie es sich vorgestellt hatte. Es wurde noch schlimmer.
Der Gedenkgottesdienst für Lennart Leopold Martinsson fand an einem Samstag statt, elf Tage, nachdem er seinem Leben an einem Betonpfeiler an der Landstraße 61 ein Ende gesetzt hatte, acht Kilometer westlich von Kil, und die Kirche von Hammarö war bis auf den letzten Platz besetzt. Gunilla hatte ihre Schwester Barbro als Begleitung dabei, ihre Eltern hatten es vorgezogen, zu Hause zu bleiben. Das hätte Barbro auch, wenn Gunilla sie nicht auf Knien gebeten hätte, mitzukommen.
Ich brauche jemanden, hatte sie erklärt. Wenn du mir jetzt nicht hilfst, werde ich dich nie wieder um etwas bitten. Ich kann nicht allein in die Kirche gehen. Sie werden mich mit ihren Blicken töten, bist du nun meine Schwester oder nicht?
Red keinen Mist, hatte Barbro erwidert. Das hast du dir selbst zuzuschreiben. Aber schon gut, ich komme mit.
Tomas war natürlich ausgeschlossen gewesen. Sie waren zusammen von Uppsala mit dem Wagen gekommen, aber ihn mit zur Kirche zu nehmen, damit hätte sie die äußerste Grenze überschritten. Habt ihr gesehen?, hätten sie getuschelt. Lennart ist noch nicht unter der Erde, und sie hat sich schon einen neuen geangelt.
Tomas hatte sich nicht so einfach gefügt, aber schließlich hatte sie ihn überredet gehabt. Während der Beerdigung saß er zweieinhalb Stunden in der Konditorei Wermelin und las Hesse. Er hatte eigentlich auch einen Spaziergang geplant gehabt, hatte sich die Stadt und den Klarälven ansehen wollen, aber es regnete die ganze Zeit.
Sie selbst war auf der Kirchenbank festgenagelt. Sowohl von Blicken als auch von Gedanken, so empfand sie es zumindest. Lennart Martinsson war zwar der Hauptdarsteller bei seiner eigenen Beerdigung, aber seine weibliche Gegenspielerin hieß Gunilla Rysth, an dieser Sache bestand kein Zweifel. Das spürte sie mit einer Deutlichkeit, die fast betäubend war, und zum ersten Mal in ihrem Leben bekam sie eine Ahnung davon, was für ein Gefühl es wohl gewesen sein musste, im 17. Jahrhundert als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrannt zu werden.
Gegen Ende der Feier defilierten alle Jugendfreunde von Lennart – und von Gunilla – am Sarg vorn beim Altar vorbei. In Paaren oder kleinen Grüppchen, doch als sie an der Reihe war, konnte sie sich plötzlich nicht mehr bewegen. Sie saß wie gelähmt da, festgenagelt an der harten Kirchenbank, und sie wusste, dass sie, selbst wenn sie hundert Jahre alt werden sollte, nie wieder einen schrecklicheren Moment als diesen erleben würde.
Ausgestoßen.
Paria.
Hexe.
Sie benutzte den Hexenvergleich, als sie eine Stunde später mit Tomas im Auto saß, auf dem Weg zurück nach Uppsala. Zuerst lachte er, dann aber wurde er ernst.
»Scheiße, war es wirklich so schlimm?«, fragte er.
»Noch schlimmer«,
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