Einsamen
Rickard für drei Weihnachtstage daheim in Hova war, verriet er seiner Mutter, dass er ein Mädchen kennengelernt habe.
Was sie freute, das konnte er ihr ansehen, obwohl es ihr schwerfiel, ihre Freude in Worte zu fassen.
Hoppla, sagte sie nur. Pass auf dich auf.
Er versprach, das zu tun. Und als er sich von ihr verabschiedete, umarmte er sie, was sie offenbar genauso überraschte wie ihn selbst. Keiner von beiden hatte sich viel um Körperkontakt bemüht. Sein verstorbener Vater auch nicht, es gab eine Grenze zwischen Fleisch und Geist, die man nicht einfach so ungestraft überschritt.
Er wusste nicht, ob Anna ihrer Familie in Salabackar von ihm erzählt hatte, und er wollte sie nicht danach fragen. Es war offensichtlich, dass sie nicht besonders gut mit ihnen stand. Sie war ja schon ausgezogen, als sie noch aufs Gymnasium ging, und sie redete fast nie von ihnen. Nicht von ihren Eltern, nicht von ihren Brüdern. Und mit ihnen auch nicht, soweit Rickard das beurteilen konnte. Natürlich würde der Tag kommen, an dem er sie kennenlernen würde – genau wie Anna seiner alleinlebenden Mutter in Hova vorgestellt werden würde –, aber, wie gesagt, es gab keinen Grund zur Eile.
Es dauerte auch noch bis weit in den Januar hinein, bevor sie sich erneut erklärten, dass sie einander liebten. Auch dieses Mal geschah es nach einem geglückten Beischlaf im Glimmervägen in Eriksberg, und Rickard begann zu begreifen, dass physische Liebe genauso wichtig und so schwierig war, wie es in diesen Artikeln immer behauptet wurde.
Vielleicht war der Glaube auch ein Hemmschuh. Hier gab es eine Kluft, von der er nicht wusste, wie er mit ihr umgehen sollte, und anfangs entschied er sich für den einfachsten Ausweg: überhaupt nichts zu tun. Er konnte mit Anna nicht über Gott sprechen, und er konnte mit Gott nicht über Anna sprechen. Zumindest fand er keine sinnvollen Worte, in welcher Richtung auch immer, und deshalb verschob er diese Frage in die Zukunft. Und für einen jungen Studenten aus Uppsala gab es Anfang der Siebziger viel Zukunft, da gab es keinen Grund, sich irgendwelche Sorgen zu machen.
In diesen ersten Semestern traf er sich auch nicht besonders oft mit Anna. Sie pendelte jeden Tag mit dem Zug zur Journalistenschule in Stockholm, meistens sahen sie sich an einem Abend in der Woche und an den Wochenenden, an denen er fast immer im Glimmervägen übernachtete. Manchmal schliefen sie zusammen, manchmal nicht. Meistens tranken sie eine Flasche Wein zusammen. Roten, Vino tinto oder Parador, beide mochten nicht so gern Weißwein. Oder Rosé, der plötzlich populär wurde.
Mehr war nicht. Mehr brauchten sie nicht.
Gott traf er an all den anderen Tagen im Theologikum. Es war genau genommen nicht immer einfach, seine Nähe zu bemerken, aber im Prinzip war sie ja selbstverständlich. Rickard Berglund trug diese Tatsache wie ein Axiom tief in sich, und ein Axiom ist nicht in Frage zu stellen. Axiome müssen sich nie anstrengen, hatte Tomas einmal gesagt, als sie diese Frage während einer Schussübung im Hågadalen diskutiert hatten. Es ist häufig ein wenig selbstgefällig, das liegt in der Natur der Sache. Rickard erinnerte sich, dass sie versucht hatten, einem ungewöhnlich wichtigtuerischen Fähnrich namens Norén zu erklären, worüber sie lachten. Was ihnen nicht geglückt war und in einem Verweis geendet hatte.
Aber wo bitte schön konnte wohl der lebendige Gott in der augenblicklichen Situation, also Mitte Januar 1971 beispielsweise, seinen Wohnsitz in diesem säkularisierten, linkslastigen Land haben, wenn nicht in der theologischen Fakultät der Universität von Uppsala? Nur einen halben Steinwurf entfernt von der Residenz des Erzbischofs, ein Viertel Steinwurf vom Dom.
Gute Frage, pflegte er zu denken. Rhetorisch elegant. Aber war es möglich, sie zu stellen, ohne dass einem dieser verräterische Geruch von Ironie in die Nasenflügel stach?
Grundkurs A/B in Religionswissenschaft, so begannen die theologischen Studien laut der jüngst verabschiedeten Universitätsordnung, und die vierzig Termine verteilten sich über die ersten beiden Semester. Eine Einführung in die sieben Examensthemen: Religionsgeschichte, Exegetik des Alten Testaments, Exegetik des Neuen Testaments, Kirchengeschichte mit Missionsgeschichte, Dogmatik mit Symbolik, Ethik mit Religionsphilosophie sowie praktische Theologie. Rickard war fleißig, das lag in seiner Natur. Er las alle angegebene Literatur, er versuchte auch die Komplettierungen
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