Einsamen
in einem Gebiet von ungefähr vierhundert mal dreihundert Metern verstreut, und alles schien mit den jeweiligen Aussagen übereinzustimmen, dass sie niemanden sonst gesehen hatten, als der Schrei zu hören gewesen war.
Ein schlauer, aber wirkungsloser Zug.
Aber war nicht gerade das verflucht merkwürdig?, dachte Barbarotti. Wenn sechs gute Freunde – plus ein Single – sich treffen, nachdem sie sich so lange Zeit nicht gesehen haben, wäre es da nicht logischer, dass sie zusammen gingen und sich unterhielten? Wenn nicht die ganze Gruppe, dann zumindest zwei und zwei? Dass zumindest einige von ihnen das getan hätten? Hatten sie bereits am Samstagabend genug voneinander gehabt? War während ihres Treffens etwas passiert? Etwas, das sie aus bestimmten Gründen lieber nicht zur Sprache bringen wollten?
Aber es konnte natürlich ebenso gut reiner Zufall sein. Elisabeth Martinsson und Gunilla Winckler-Rysth hatten zugegeben, dass sie zwei oder drei Minuten vor dem Schrei ziemlich in der Nähe voneinander gewesen waren. Anna Berglund glaubte, ihren Mann ungefähr zur selben Zeit gesehen zu haben. Und das Gelände war hügelig und bewaldet, es gab keine guten Sichtmöglichkeiten.
Aber keiner von ihnen hatte demnach ein Alibi. Das hatte Sandlin in seinen Kommentaren zu dem Fall konstatiert, und Barbarotti konnte das Gleiche heute, fünfunddreißig Jahre später, bestätigen. Jeder der sechs hätte Maria Winckler über den Steilhang stoßen können.
Im Prinzip. Die Frage war natürlich: Warum? Warum sollte einer von ihnen das getan haben? Hatte jemand einen Grund?
War es das, was Sandlin dazu gebracht hatte, die Ermittlungen drei Monate lang fortzusetzen? Die Witterung eines
Motivs?
War es diese Witterung, die ihn dazu gebracht hatte, den Platz an drei verschiedenen Gelegenheiten zu inspizieren, das letzte Mal erst im Dezember? Die ihn dazu veranlasst hatte, ein halbes Dutzend Assistenten und Uniformierte loszuschicken, um das Geschehene zu rekonstruieren? Was ihn dazu veranlasst hatte, abgesehen von den Beteiligten weitere zehn Personen zu befragen, und was dazu geführt hatte, dass der damalige Polizeidirektor, ein gewisser Kommissar Valfridsson, ihn gebeten hatte, ein schriftliches Extra-Memorandum bezüglich der Frage zu verfassen, warum man bei diesem Stand der Ermittlungen nicht ganz einfach die Untersuchungen ein-
stellte.
Dieses Memorandum befand sich in dem zweiten Ordner. Es trug das Datum des 19. November 1975 und informierte darüber, dass bestimmte Vernehmungen und Untersuchungen noch durchzuführen waren. Das war’s auch schon. Barbarotti meinte erahnen zu können, dass Inspektor Sandlin nicht viel für seinen Chef übriggehabt hatte, und er erinnerte sich daran, dass es Gerüchte um Valfridsson gab, die besagten, dass er unangenehmer gewesen war als erlaubt. Sogar für einen Polizeidirektor. Er war fünf Jahre, bevor Barbarotti seine Karriere bei der Polizei von Kymlinge begann, in Pension gegangen – mit einer nicht viel längeren anschließenden Lebenszeit, da sein nikotinverursachtes Lungenemphysem nicht unerwartet den längeren Halm zog.
Sandlin hatte während der Herbstmonate 1975 natürlich nicht ausschließlich an diesem Fall gearbeitet. Nicht jeden Tag. Alle Papiere waren datiert, und es gab Lücken, sowohl tagelange als auch wochenlange.
Ja, das ist wohl alles, fasste Barbarotti die Lage für sich zusammen und seufzte. Beschloss, alles Backman zu überlassen, damit sie es sich ebenfalls in aller Ruhe durchsehen konnte. Sie hatten zwar vereinbart, dass er in der Vergangenheit graben wollte, sie in der Gegenwart, aber ein wenig Austausch konnte ja nicht schaden.
Er öffnete seine Hände im Nacken, nahm die Füße vom Schreibtisch und wollte gerade aufstehen, als es an der Tür klopfte und sie ihren Kopf hereinsteckte.
»Störe ich beim Denken?«
»Gutes timing«, entgegnete Barbarotti. »Nein, meine Gedanken haben leider Schiffbruch erlitten. Ich wollte gerade zu dir kommen und dich fragen, ob du den Fall schon gelöst hast.«
»Nicht ganz«, gab Backman zu und setzte sich. »Aber ich bin auf dem Weg.«
»Tatsächlich?«, fragte Barbarotti.
»Ja, denn ich glaube, es ist gar kein Fall. Genau wie ich schon anfangs gesagt habe. Sie ist gefallen, und er ist gesprungen.«
»Warum?«, fragte Barbarotti.
»Was meinst du?«
»Der Sprung«, sagte Barbarotti. »Der Fall braucht ja wohl kein Motiv.«
»Der Fall?«, sagte Backman. »Schöner Titel.«
»Ich weiß«, sagte Barbarotti.
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