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Einsamen

Einsamen

Titel: Einsamen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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zu lesen, die seine Lehrer ihm in den Seminaren empfahlen, und parallel dazu las er Kierkegaard: Entweder – Oder; Stadien auf des Lebens Weg; Der Begriff Angst. Ein Problem war, dass es nicht möglich war, einen kompletten Kierkegaard auf Schwedisch zu bekommen; er hatte eigentlich nur sein fast zerlesenes Exemplar von Ausgewählte Schriften zur Verfügung sowie Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift, Teil II auf Dänisch (durch Zufall gefunden in einem der Antiquariate oben in der Oberen Schlossgasse), aber trotzdem, trotz der Lücken, erlebte er jedes Mal, wenn er in diese Grundtexte des Existentialismus eintauchte (denn dass es sich um diese handelte, das hatte er verstanden), ein Gefühl von etwas Frischem, Wahrem und Menschlichem. Frischer, wahrer und menschlicher als Ambretsen und Fincks Die Geschichte der christlichen Mission auf jeden Fall. Aber das konnte man eigentlich von fast allem
behaupten.
    Jedenfalls paukte Rickard alles, was es zu pauken gab; was auch die meisten seiner Kommilitonen taten. Sie klagten, stöhnten, fürchteten sich vor den Prüfungen, aber das gehörte dazu. Die Kierkegaardsche Wahl musste warten, so war es nun einmal, und alles hat seine Zeit.
    Selbst die Rückkehr unseres Herrn Jesus Christus auf die Erde, wie zu vermuten war. Überhaupt schien vieles in einer fernen Zukunft zu liegen, und das war vielleicht der Grund dafür, dass die Gegenwart sich so ungewiss anfühlte.
    Aber eines Tages – ja, während vieler der kommenden Tage, das wusste er – würde er mit Anna über all das sprechen. Natürlich, es war nur eine Frage der Zeit, sonst nichts.

20
    B arbarotti war erst am Dienstagnachmittag um vier mit der Durchsicht von Sandlins grünen Ordnern fertig geworden, aber da Asunander die Besprechung auf den Mittwoch verschoben hatte, spielte das keine große Rolle.
    Er steckte die letzten Papiere wieder an ihren Platz und schob die Ordner beiseite. Lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, legte die Füße auf den Schreibtisch, verschränkte die Hände im Nacken.
    Dachte, was für eine verdammt merkwürdige Geschichte das doch war.
    Oder vielleicht war merkwürdig das falsche Wort. Denn eigentlich war es gar keine Geschichte. Nachdem er die drei letzten Vernehmungen durchgegangen war – alle am selben Nachmittag und Abend durchgeführt, am Montag, dem 29. September 1975, einen Tag nach dem Todessturz in die Gänseschlucht, alle von Kriminalinspektor Evert Sandlin im Polizeirevier von Kymlinge –, dachte Gunnar Barbarotti, dass er nur selten oder noch nie etwas Inhaltsleereres gelesen hatte. Weder Rickard Berglund, Elisabeth Martinsson noch Gunilla Winckler-Rysth hatten etwas angebracht, was auch nur im Geringsten das Bild verändert hätte, das er sich nach den Zeugenaussagen, die er am vorhergehenden Abend gelesen hatte, gemacht hatte: Germund Grooths, Tomas Wincklers und Anna Berglunds.
    Alle berichteten ganz einfach genau das Gleiche. Alle sechs waren allein, jeder für sich, durch den Wald gestreift, keiner hatte einen anderen in seinem Blickfeld, als der Schrei zu hören gewesen war. Alle hatten sich, so schnell es ging, zum Steilhang begeben und waren nach wenigen Minuten bei der toten Maria Winckler unten am Fuße des Hangs gewesen. Tomas Winckler war losgelaufen, um Hilfe zu holen.
    Keiner konnte auch nur das geringste Detail beitragen, das etwas erhellt hätte, und wenn nicht einige der Frauen mit der Behauptung gekommen wären, dass die Verstorbene das Wort »Mörder!«, alternativ »Töte mich!«, gerufen hätte, es hätte nicht den geringsten Grund auch nur für einen Verdacht eines Verbrechens gegeben.
    Zumindest nicht bis heute, fünfunddreißig Jahre später, nachdem der nächste Ausflugsteilnehmer dort unten gelegen hatte.
    Todesfelsen, dachte Gunnar Barbarotti. Wenn es so etwas nie gegeben hat, wieso hat man dann diesen Begriff erfunden?
    Aber die totale Übereinstimmung an sich erschien merkwürdig. Die Ähnlichkeit zwischen den Zeugenaussagen. Oder lag es nur an Sandlin, der ein schlechter Vernehmungsleiter gewesen war? Beharrlich, aber schlecht? Hatte er die falschen Fragen gestellt?
    So viel später war das schwer zu beurteilen. Das Ankreuzen auf der Karte war ein schlauer Zug gewesen, das musste Barbarotti zugeben. Jeder Ausflugsteilnehmer hatte sein Kreuz auf einer leeren Karte machen müssen, aber nicht einmal das hatte zu irgendwelchen Diskrepanzen geführt. Als Sandlin die Ergebnisse auf seiner eigenen Karte zusammengeführt hatte, lagen die Punkte

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