Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman
sich noch so gleichgültig
geben. Er liebte sie, von ganzem Herzen, und sie – hatte zumindest die Pflicht,
sich damit auseinanderzusetzen. Wenigstens empfand er es so, wenn ihm auch eine
exakte Begründung jenes Sachverhalts schwergefallen wäre. Egal. Er fühlte sich
im Recht, glaubte, Stärke zeigen zu müssen.
Gerade, als er Swentja in den Arm, in Besitz nehmen und küssen
wollte, erschien Mahmud auf der Szene und fragte, ob der Typ sie belästige.
Swentja, gleichermaßen verdutzt wie erfreut, antwortete mit einem
Achselzucken, dem ein Lächeln folgte. Sie genoß es sehr, derart im Mittelpunkt
zu stehen, wobei es ihr relativ egal war, ob aus der sich abzeichnenden
Auseinandersetzung Mahmud oder Johnny siegreich hervorgehen würde. Nur, daß
zwei Typen bereit waren, um sie zu kämpfen, zählte. Würde es zu einer Prügelei
zwischen beiden kommen? Swentja krümmte keinen Finger, um irgend etwas zu
verhindern. Und wem würde sie danach zu folgen bereit sein? Dem Sieger? Dem
Verlierer? Keinem von beiden? All das war längst noch nicht entschieden.
Swentja schlug die Beine übereinander und beschloß, den Dingen ihren Lauf zu
lassen. Aus den Augwinkeln, mehr, um sich aus dem, was direkt vor ihr geschah,
herauszuhalten, warf sie einen Blick auf die Schaukel, auf der Sonja grad eben
noch gesessen hatte. Jene Schaukel war nun leer, der Sitz baumelte im Wind.
Swentja sah sich um. Den ganzen Spielplatz suchte sie nach Sonja ab. Hinter
ihrem Rücken nahm Mahmud Johnny in den Schwitzkasten und boxte ihm in die
Nieren, bis Johnny schrie vor Schmerz. Swentja hob derweil eine Hand über die
Augen und suchte ihre kleine Schwester. Die nirgends zu finden war.
»Hört auf, ihr beiden!« rief Swentja laut und lief zum Sandkasten.
Keines der ordinären Kinder, die dort spielten, sah Sonja auch nur entfernt
ähnlich.
Sonja war weg, wie vom sprichwörtlichen Erdboden verschwunden. Und
Swentja geriet in Panik.
Mahmud und Johnny registrierten erst spät, daß sie binnen weniger
Sekunden von Hauptdarstellern einer Eifersuchtsszene zu Komparsen einer viel
größeren Handlung geworden waren. Beide rannten los, in entgegengesetzte
Richtungen, um die verlorengegangene Sonja zu suchen. Nicht, weil sie sich um
das Kind ernsthaft Sorgen machten, viel eher, um bei Swentja zu punkten. Aber
Sonja blieb unauffindbar, auch nach einer halben Stunde intensivster Suche.
Wie sollte Swentja das ihren Eltern erklären? Ihr wurde schlecht,
sie glaubte, sich übergeben zu müssen. Doch statt sich zu übergeben, schrie
sie, so laut, bis auch das letzte jener minderbemittelten Kinder begriffen
hatte, daß etwas Außerordentliches vorgefallen war.
22
Sarah Stern setzte sich in ihren kornblumenblauen BMW und fuhr zur Schießanlage nach Treptow. Seit über
zwei Jahren schliefen sie und ihr Gatte (so gut wie) nie mehr miteinander,
nicht einmal nebeneinander, denn Thomas schnarchte laut und strampelte, wenn er
schlecht träumte. Zuerst war Sarah die räumliche und körperliche Trennung ganz
willkommen gewesen, sie hatte sich, mit Thomas’ vollem Einverständnis, dessen
entledigt, was früher einmal, sehr strengdeutsch, als Eheliche Pflicht bezeichnet worden war. Dann, nach und nach, begann für Sarah eine Phase innerer
Unruhe, die nun schon beinahe ein Jahr andauerte. An ihrem vierzigsten
Geburtstag hatte sich jene Unruhe verdichtet, zu einem bohrenden Gefühl im
Bauch, das selbst mit Schweizer Bruchschokolade nicht länger besänftigt werden
konnte. Sie hatte ein paar Pfunde zugelegt, fühlte sich unattraktiv und vor der
Zeit gealtert. Morgens, wenn sie in den Spiegel sah, fragte sie sich, was aus
ihr geworden war und ob man das nicht frühzeitig hätte verhindern können, ja
müssen. In den letzten Wochen hatte sie sich mühsam fünf Pfund abtrainiert –
aber Thomas hatte es kaum zur Kenntnis genommen, er besaß kein erotisches Auge
mehr für seine Gattin, wozu auch – sein Leben war diesbezüglich geregelt, dafür
gab es Carla. Zwar glaubte Sarah nicht, daß Thomas mit dieser Carla wirklich
glücklich war, aber das mußte er ganz allein mit sich ausmachen.
Ebenso war für ihr eigenes Glück niemand als sie selbst
zuständig. Das zunehmende Verlangen, ihren langweiligen Alltag durch ein neues
Element zu beleben, hatte dazu geführt, daß sie über eine eigene Affäre
nachzudenken begann. Andererseits wußte sie sehr wohl, daß in ihrem Fall Sex
nur eine Ausflucht bedeuten konnte. Und daß Ausflüchte nie befriedigen.
Der Weg kann das Ziel sein, die
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