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Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman

Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman

Titel: Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Krausser
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Ausflucht aber ist ziellos. Sarah
wollte keine Rollen spielen, die ihr nicht auf den Leib geschneidert waren.
Wollte nicht fremdgehen, nur weil das alle anderen so hielten und taten, als
sei es unbedingt nötig. Sex bedeutete ihr nun mal recht wenig, folglich war sie
eine gebrandmarkte, scheel angesehene Außenseiterin in einer Gesellschaft
eitler und liebeshungriger Menschen, die ihre Lebensqualität über die Zahl der
erzielten Orgasmen definierten.
    Sarah hatte, in einem Anfall von Selbstverachtung und Verzweiflung,
ihre einstmals beste Freundin, Julia, angerufen und ihre Seelenlage bloßgelegt.
Julia, die, seit sie Managerin geworden war, unter ständiger Zeitnot litt,
zeigte kaum Verständnis, im Gegenteil. Ihre Gegenbeichte, regelmäßig einen
Escortservice zu bemühen und gegen Bezahlung professionell bedient zu werden,
hatte nur dazu geführt, daß Sarah sich noch weiter im gesellschaftlichen
Abseits wähnte, im tiefen Tal der Schräg-Sonderbaren, denen in diesem Leben
nicht zu helfen war.
    Dann hatte Julia die Idee mit dem Treptower Schießstand gehabt. Dort
könne man sich prima abreagieren. Auf jenen Vorschlag war Sarah seltsamerweise
eingegangen, obgleich sie bis dahin nie in ihrem Leben eine Waffe in der Hand
gehalten hatte. Hauptsächlich geschah es wohl, weil Sarah vor ihrer taffen
Managerfreundin nicht blaß und antriebslos erscheinen und lieber etwas völlig
Verrücktes ausprobieren wollte. Schließlich, als sie zum ersten Mal mit einem Gewehr
auf eine fünfzig Meter entfernte Attrappe schoß, kam ihr ein Lied der Beatles
in den Sinn, Happiness
is a Warm Gun . Zwei Wochen später war sie dem Gotcha-Team
beigetreten, um, wenn auch nur mit Farbkugeln, auf lebendige Menschen zu
feuern. Es war eine fabelhafte Möglichkeit, Adrenalinschübe zu genießen und
zugleich ihr Körpergewicht zu reduzieren. Thomas ahnte nichts von jenen
Ausflügen. Ein nicht geringer Teil des Kitzels resultierte eben daraus.
    Die Pfennigs informierten die Polizei gegen 16:30 Uhr.
Einige der noch am Spielplatz anzutreffenden Kinder wurden befragt, ob sie
etwas Relevantes beobachtet hätten. Keines der maulfaulen Bälger konnte sich an
Sonja auch nur erinnern. Maschjonka Pfennig erlitt gegen 18 Uhr einen
Nervenzusammenbruch. Robert Pfennig verlor ebenfalls die Fassung, wollte von
Swentja wissen, warum sie auf ihre Schwester nicht besser aufgepaßt habe. Als
Swentja den Polizisten gestand, sie sei mit gleich zwei Verehrern beschäftigt
gewesen, Mahmud und Johnny, platzte ihrem Vater der Kragen. Es fehlte nur wenig – und er hätte seiner mannstollen Tochter, selbst vor Zeugen, eine Ohrfeige
verpaßt. Swentja bekam es mit der Angst. Deshalb, und nicht zuletzt, weil sie
sich schuldig fühlte, zog sie es vor, bei einer Freundin zu übernachten. Der
sie nichts von alledem offenbarte, was sie quälte.
    Die Pfennigs wurden bei ihren Nachbarn zum Gesprächsthema.
Lange Debatten konnten dabei folgendermaßen zusammengefaßt werden:
    Frage: Wie kann ein Kind von einem öffentlichen Platz verschwinden,
ohne daß irgendwer davon etwas bemerkt?
    Antwort: Offensichtlich geht es. Wenn Eltern zu sehr mit sich selbst
beschäftigt sind.
    Sarah liebte es, während der Kampfhandlungen getroffen zu
werden. Nicht, daß sie keinen sportlichen Ehrgeiz besaß, nein, es verschaffte
ihr Befriedigung, jemanden abzuschießen. Aber sie war auch eine prima
Verliererin, und der Moment, wenn eine Farbkugel auf ihrem Trainingsanzug
platzte und sie, getroffen, das Spielfeld verlassen mußte, besaß etwas
existentiell Erregendes. Sie lernte sich neu kennen und hegte bald den
Verdacht, masochistischen Spielarten des Sex zugänglicher zu sein, als sie es
je für möglich gehalten hatte. Thomas hatte jedesmal um Erlaubnis gefragt,
bevor er, in grauer Vorzeit, in sie eingedrungen war. Und ihrer Erziehung gemäß
war Sarah um jene Nachfrage stets dankbar gewesen; ihre Mutter hatte ihr
eingeschärft, den Kerlen bloß nie die Macht zu überlassen. Jetzt, mit vierzig,
dachte Sarah darüber nach, ob ihre Mutter ihre Ehe von Anfang an sabotiert
haben könnte, mit einem einzigen gutgemeinten Ratschlag. Während Sarah das
Gewehr nachlud, dachte sie daran, wie es wäre, vor einem Erschießungskommando
zu stehen, an einen Pfahl gefesselt – und überall auf ihrem Körper zerplatzten
bunte Farbkugeln. Das war schon abartig, fand sie, und beschloß, niemandem
davon zu erzählen.
    Und wieder, wie am Abend zuvor, saß Ekki Nölten in seiner
Stammkneipe an der Kreuzung Monumenten-

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