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Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman

Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman

Titel: Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Krausser
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21 Uhr wurde Uwe König Opfer eines Raubüberfalls. Er
kam aus dem Fitnessstudio, wo er eine Stunde lang vor allem seine
Bauchmuskulatur trainiert hatte, ging die Heinrich-Heine-Straße nach Süden,
Richtung U-Bahn Moritzplatz, als ihm plötzlich jemand von hinten ein Messer an
die Kehle hielt und eine noch jugendliche Stimme rief, er solle seine Kohle
rausrücken.
    Uwe hatte stets gewußt, daß die Gegend nicht ungefährlich war,
deshalb trug er nie viel Bargeld bei sich. Der Angreifer hatte ihn ein Stück
von der Straße weggedrängt, es gab auf Sichtweite keine Passanten, und von
einem der Autos aus, die vorbeifuhren, wäre Uwes Situation schwer zu beurteilen
gewesen. Ein geschickt gewählter, kaum beleuchteter Tatort, der zwischen dem
geschlossenen Lidl-Lebensmittelmarkt und einem nach Pisse riechenden Gebüsch
lag. Selbst schuld, dachte Uwe, holte sofort die Geldklammer aus der
Hosentasche und ließ sie fallen. 120 Euro waren es nicht wert, irgend etwas zu
riskieren.
    »Dreh dich bloß nicht um!« befahl die Stimme, Uwe sah, wie eine Hand
nach den Scheinen griff, er hätte in diesem Moment auf die Hand treten können,
mit relativ guten Erfolgsaussichten, aber nein, er wollte nicht den Helden
spielen. Er hörte, wie der Angreifer davonlief, mit harten, im Kies
knirschenden Schritten an der Mauer des Lidl-Marktes entlang, in Richtung der
Hochhäuser. Shit happens. Das war überstanden.
    Erst jetzt stellte sich der Schock ein. Uwes Herz raste, ein
Schweißausbruch durchtränkte ihm die Kleidung, seine Knie zitterten, und
krampfhaft versuchte er sich einzureden, daß die 120 Euro sich gelohnt hatten,
gut angelegt waren, immerhin konnte er nun sein Leben lang die spannende
Geschichte erzählen, wie er Opfer eines Raubüberfalls geworden war, mit einem
Messer an seiner Kehle. Einem blitzenden Messer an seinem Adamsapfel!
    Aber wie geschickt er seine Situation auch reflektierte, es blieb
das zentnerschwere Gefühl der Demütigung, es kam die Wut und es kam die Angst,
die erst jetzt, da die Gefahr doch schon vorbei war, zu vollem Ausmaß gelangte.
Wegen so wenig Geld vielleicht tödlich verletzt zu werden, die Fragilität der
eigenen Existenz so lapidar, en passant, verdeutlicht zu bekommen, durch
irgendeinen gewissenlosen Abschaum – das zu überwinden, einfach von sich zu
streifen, nein, dafür reichte kein psychologischer Trick. Er betatschte seinen
Hals, suchte nach Blut. Da war kein Blut, aber irgendwie blutete er doch.
    Es war Uwe Königs Eitelkeit, die da blutete. Weil sehr
wahrscheinlich gar nichts passiert wäre, hätte er sich einfach geweigert, Geld
rauszurücken.
    Er wollte den Rest des Abends auf keinen Fall allein verbringen,
wollte sich schnellstmöglich jemandem anvertrauen, die Nähe eines Menschen
spüren. Aber Julia kam nicht in Frage, sie war keine geborene Trösterin und
hatte ihm schon am Nachmittag, ganz ausnahmsweise, eine Stunde ihrer so
wertvollen Zeit gegönnt, um Einzelheiten der Scheidung zu besprechen.
    Diese Kim fiel ihm ein. Sobald er in der U-Bahn saß, kramte er ihre Nummer hervor.
    Johnny schämte sich noch immer. Vincent und Viv waren nett
zu ihm gewesen, bereit, aufmerksam zuzuhören, sie hatten ihm zu trinken und zu
essen angeboten, sie klebten ein Pflaster auf seine Stirnwunde, schienen
ernsthaft an seinen Problemen interessiert, er aber war noch einen Moment, weil
ihm schwindelte, am Küchentisch gesessen, verwirrt, verstockt, bevor er Anlauf
nahm. Als gelte es, brutalen Sklavenhändlern zu entkommen, war er zur Tür
hinaus ins Freie gerannt. Er hatte sich auf dem Kreuzberg in eine Wiese gelegt,
mitsamt seinem gründlich in Trümmer und Splitter zerfallenen Weltbild. Der
Geruch des frischen Grases, durchwoben von einem Hauch ferner Hundescheiße,
entsprach ganz gut seinen Empfindungen. Er mußte ein anderer Mensch werden,
mußte sich von Grund auf suchen und neu erfinden. Mit dem Duft und der Kraft
des frisch über seiner Vergangenheit gewachsenen Grases. Minus der
Hundescheiße. Ihm war, als ob er sich geschämt hätte, seit er denken konnte.
    Johnny atmete tief und wartete, bis es dunkel war, um sich danach
weniger beobachtet zu fühlen. Endlich erhob er sich und wankte ziellos in die
Nacht. Er stand auf der wuchtigen Langenscheidtbrücke, streichelte den
schwarzen Stahl, sah den Zügen zu, die unter ihm vorbeirasten, spürte den
Wunsch, auf irgendeinen aufzuspringen, sich von irgendeinem zermalmen zu lassen – und sah doch jedem immer nur hinterher.
    Jemand stand neben

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