Einstein - Einblicke in Seine Gedankenwelt
aber »die Menge aller Teilmengen« eine größere Mächtigkeit, obschon sie selbst doch nicht weiter reichen kann, als bis zu dem Maximalbegriff aller denkbaren Dinge. Wir landen somit bei einer unauflöslichen Paradoxie, als dem typischen Beispiel dafür, daß in dem angewandten Begriffssystem irgend etwas nicht ausreicht oder der äußersten Denkreinlichkeit zuwiderläuft. Und diese skeptische Ansicht wird Stützen finden in mancherlei Äußerungen von Descartes, Locke, Leibniz und besonders von Gauss, der lange vor der Mengenlehre gegen unscharfe Definitionen des Unendlichen protestiert hat.
In einem anderen Fall hingegen scheint dieselbe Lehre absolut beweisscharf vorzugehen, wiewohl sie auch hier in einer Aussage mündet, die dem »gesunden Menschenverstand« nicht einleuchtet. Sie zeigt nämlich in einem höchst geistreichen und scharfsinnigen Verfahren, daß sich sämtliche Flächenpunkte einer allseits unbegrenzten Ebene in umkehrbar eindeutiger Weise den Linearpunkten einer noch so kurzen Strecke zuordnen lassen; so daß also jedem Punkt der unbegrenzten Ebene ein bestimmter Punkt der Strecke entspricht, und umgekehrt. Derselbe Satz läßt sich für den unbegrenzten dreidimensionalenRaum erweitern, wonach man sich, wiederum ganz populär gesprochen, mit der ungeheuerlichen Tatsache anzufreunden hätte: eine gradlinige Strecke von beliebiger Kleinheit bietet in der Anzahl ihrer Punkte die nämliche Mächtigkeit, wie sämtliche Raumpunkte des Universums.
Ich persönlich muß gestehen, daß mir jedes Mittel fehlt, um mich in diese Paradoxie hineinzufinden. Aber das sacrificium intellectus rückt mir in bedrohliche Nähe. Einstein, der die Mengenlehre als Wissenschaft, vielleicht noch mehr als wissenschaftliches Kunstwerk, hochschätzt und bewundert, tritt hier durchaus als Anwalt des Beweises auf, er lehnt den Begriff der Paradoxie ab, das heißt, er statuiert nicht den Widerspruch gegen das Denken, sondern nur gegen eine korrigierbare Denkgewohnheit. Ich gäb' was drum, wenn mir die Korrektur gelänge!
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Ein drittes Beispiel ergibt sich aus der speziellen Relativitätstheorie, als ein gedankliches Abenteuer, das bei genügender Einsicht in die Zusammenhänge seinen paradoxalen Charakter verliert.
Nach dieser Theorie ändert sich die Ablaufsgeschwindigkeit der Naturvorgänge mit der Bewegung. Wir stellen uns nun zwei Individuen vor, etwa die Zwillinge A und B, die im Moment der Geburt zwar an demselben Ort weilen, allein sofort getrennt werden. B beharrt räumlich, während A im Weltenraum von der Erde aus beurteilt einen ungeheuren Kreis mit immenser Geschwindigkeit beschreibt. Dadurch wird für A der Ablauf aller Vorgänge erheblich und in berechenbarer Weise herabgesetzt. Trifft A wieder bei B ein, so kann es sich ereignen, daß der beharrende Zwilling inzwischen 60 Erdjahre alt geworden ist, während der zurückkehrende nur 15 Jahre zählt, oder sich gar noch im Säuglingsstadium befindet.
Wer mit diesem Gedankenflug zum allererstenmal Bekanntschaft macht, der kann sich natürlich einer starren Verblüffung nicht erwehren. Nichtsdestoweniger befinden wir uns hier nicht in einer Welt der Mirakel, sondern im Rahmen der Begreiflichkeit.
Bei diesen Zwillingen, erklärte Einstein, haben wir zunächst eine Gefühls -Paradoxie vor uns. Eine Denk -Paradoxie würde indeß nur dann vorliegen, wenn sich für das Verhalten der beiden Geschöpfe kein zureichender Grund anführen ließe. Dieser Grund für das Jüngerbleiben des A ergibt sich vom Gesichtspunktder speziellen Relativitätstheorie aus der Tatsache, daß das betreffende Geschöpf – und nur dieses – Beschleunigungen erlitten hat. Eine tiefere Erfassung des Grundes ist indeß nur auf dem Boden der »Allgemeinen Relativitätstheorie« zu erlangen, die uns erkennen läßt, daß von A aus beurteilt ein Zentrifugalfeld existiert, von B aus betrachtet aber nicht; und dieses Feld hat einen Einfluß auf den relativen Ablauf und die Raschheit der Lebensvorgänge.
Es muß freilich ein ziemlich umfangreicher Apparat aufgeboten werden, um den bewegten Zwilling auch nur eine Zeit-Sekunde gewinnen zu lassen. Wenn er ein Jahr Karussel fährt auf einem Kreisumring von rund 30 Milliarden Kilometer Länge, so müßte er in der Drehmaschine pro Sekunde 1000 Kilometer zurücklegen, um sich mit diesem Altersunterschiede gegenüber dem ruhenden Geschöpf zu verjüngen.
Dieses unausbleibliche und dem wissenschaftlich geschulten Denken verständliche Resultat
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