Einstein - Einblicke in Seine Gedankenwelt
beleuchtet zugleich die Natur des »gesunden Menschenverstandes«, den schon Kant als die letzte Instanz verworfen hat, insofern dieser ›gemeine Verstand‹ unvermögend ist, über die Beispiele seiner eigenen Erfahrung hinauszugehen. Er bewegt sich, wie Einstein sagt, »gefühlsmäßig und ausschließlich in Analogien«. Für einen Vorgang wie den zuvor geschilderten fehlt ihm die Analogie, und da er nur mit den Regeln in concreto umzugehen weiß, so erscheint ihm manches als paradox, was eine gesteigerte Abstraktion als begründet und notwendig erkennt.
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Eine spekulative Betrachtung: Wenn alle Dinge der Welt in ihren Dimensionen ungeheuerlich wüchsen oder abnähmen, wenn sich zugleich, uns verborgen, gewisse physikalische Bedingungen veränderten, so würde uns jedes Mittel fehlen, um den Unterschied zwischen jetzt und früher irgendwie festzustellen. Denn da sich auch alle Maßstäbe einschließlich der in unseren Sinnen eingelagerten in gleicher Proportion verändert hätten, so wäre der vorige Zustand und der spätere schlechterdings ununterscheidbar. Das nämliche müßte, wie leicht zu zeigen, eintreten, wenn ein außerweltlicher Eingriff alle Dinge des Universums ungleichmäßig verschieben, verbiegen, verkneten, deformieren würde, sobald nur unsere Instrumente und Organe an solcher Transformation teilnähmen. Mithin dürften wirauch die uns bekannte Welt als eine möglicherweise deformierte beargwöhnen, hervorgegangen aus einer anderen, von deren ursprünglicher Gestaltung wir niemals etwas zu erfahren vermöchten.
Existiert zwischen diesen grotesken Betrachtungen und der Relativitätslehre irgendwelcher Zusammenhang ?
Nur ein negativer, e contrario festzustellender. Diese Deformationen, so entwickelt Einstein, sind an sich physikalisch sinnlose Abstraktionen. Physikalisch sinnvoll sind nur die Beziehungen zwischen Körpern, z. B. die Beziehung zwischen Maßstäben und gemessenen Gegenständen. Von Deformationen kann daher sinnvoll nur die Rede sein, wenn die Deformationen zweier oder mehrerer Körper gegeneinander ins Auge gefaßt werden, während der Begriff der Deformation ohne Angabe eines realen Gegenstandes, auf den sie zu beziehen wäre, gar keinen Sinn besitzt. Der erkenntnistheoretische Wert der Allgemeinen Relativitätstheorie gegenüber der früheren Physik liegt nun eben darin, daß sie jene sinnlosen Abstraktionen in Bezug auf das Zeitliche und Räumliche vollständig vermeidet.
[Sonach wäre das Eingehen auf jene grotesken Gedankengänge, wenn diese auch physikalisch unhaltbar sind, doch nicht ganz zwecklos. Denn da die neue Physik solche Irrgänge vermeiden lehrt, so erscheint es doch ersprießlich, sich mit dem zu vermeidenden bekannt zu machen. Sowie man ja auch die Scholastik studieren muß, um die von scholastischen Fesseln befreite Philosophie voll zu verstehen. Zudem entbehren die Betrachtungen über die verbogenen Welten nicht eines gewissen spekulativen Reizes; gauklerisch könnte man ihn nennen, wenn er auf etwas anderes hinausliefe als auf eine Vergräulichung der Welten. Freilich bergen sie auch Verlockungen, die manchen antreiben könnten, sich auf ein gefährliches Terrain zu begeben, um etwa Gleichnisse außerhalb der Geometrie und Physik zu wagen. Wäre es vielleicht möglich, plötzlich in eine Welt zu geraten, die ethisch, kulturell, logisch verbogen, verzerrt wäre, ohne daß wir es merkten? Stecken wir am Ende gar in einer solchen Verunstaltung, die wir nicht wahrnehmen, weil sich die empfangenden Organe in gleichem Maße mitdeformierten? Ich gestehe offen, daß ich ein Fortspinnen des Deformationsfadens nach dieser Richtung nicht für ganz undenkbar halte; muß indeß hinzufügen, daß Einstein derartige Weiterungen rundweg ablehnt, da sie, wie er betont, in Gebiete führen, die lediglich einen Tummelplatz für »Wortakrobatik« darstellen.]
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Die Frage, ob die Natur Sprünge macht oder nicht, ist uralt. Sie begründet in der Abstammungslehre den Gegensatz zwischen Revolutionisten und Evolutionisten, welche den Grundsatz »natura non facit saltus« bis in alle Folgerungen vertreten. Neuerdings versuchen sich besonders in der Psychologie Ansichten durchzusetzen, die ein Naturprinzip der Unstetigkeit verkünden. Es wird da behauptet, daß wir selbst in unseren Wahrnehmungen und Empfindungen diskontinuierlich eingestellt sind, daß jede Perzeption wie ein Kinematograph in lauter äußerst raschen Unterbrechungen arbeitet. Wäre dies tatsächlich der Fall,
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