Einstein - Einblicke in Seine Gedankenwelt
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Unter anderem, daß Goethe selbst in der Vogelkunde höchst mäßig beschlagen war. Er wußte als hoher Siebziger noch nicht einmal Lerchen von Ammern und Sperlingen zu unterscheiden!
– Ist das Tatsache?
Vollkommen erwiesen. Eckermann berichtet es sehr ausführlich in einem Gespräch von 1827. Und da mir die Stelle zufällig erst gestern in die Finger kam, so kann und darf ich wohl zitieren: »Du Großer und Guter,« – dachte Eckermann, »der du die ganze Natur wie Wenige durchforscht hast, in der Ornithologie scheinst du ein Kind zu sein!«
Für einen spekulativen Philosophen, will ich einschalten, könnte dies der Ausgangspunkt einer reizvollen Untersuchung bilden. Der eine weiß nicht, wie eine Lerche aussieht, wäre aber imstande gewesen, die platonische Idee des Gefiederten zu erfassen, auch wenn gar keine Vögel vorhanden wären, und so hätte der andere, Humboldt, vielleicht bei entsprechendem Auftrag des Himmels kreisende Planeten erschaffen; nur das, was wir eine astronomische Tat nennen, etwas Kopernikanisches, Keplerisches, hätte er nie zu vollbringen vermocht.
Und noch bezüglich einiger anderer Männer geriet ich bei Einstein an Äußerungen, die dem Fortissimo meiner Taxe einen gewissen Dämpfer aufsetzten.
Wir sprachen von Leonardo da Vinci , ganz unabhängig von dessen künstlerischer Bedeutung, also nur von Leonardo, dem Erkenner und Forscher. Ihm seine Zugehörigkeit zur Walhalla der Geister zu bestreiten, liegt Einstein fern. Allein es war klar, daß er mir empfehlen wollte, meinen Katalog anders zu numerieren, um dem italienischen Meister nicht gerade in erster Reihe den Standort zuzuweisen.
Das Leonardo-Problem erweckte meine volle Teilnahme und verdient sie in der ganzen Welt. Je mehr die Erforschung seiner Schriften vorschreitet, desto intensiver verdichtet sie sich zu der Frage: wieviel Bestandteile verdankt unsere Wissenschaft überhaupt dem Leonardo? Allen Ernstes wird heut erklärt, er ist nur im Nebenfach Maler und Bildhauer gewesen, im Hauptberuf aber Ingenieur, und zwar der größte aller Zeiten. Darüber hinaus macht sich die Ansicht geltend, er wäre als Wissenschaftler die Leuchte aller Leuchten von keinem früheren oder späteren in der Fülle der Erkenntnisse erreicht.
Ich hatte mir, da das Problem schon früher zwischen uns erörtert war, eine kleine Tabelle mitgebracht, flüchtig ausgezogen aus den mir zugänglichen Spezialwerken. Nach dieser Liste wäre Leonardo der eigentliche Entdecker und Urheber folgender Dinge:
Gesetz von der Erhaltung der Kraft.
Gesetz der virtuellen Geschwindigkeiten, vor Ubaldi und Galilei.
Wellentheorie, vor Newton.
Entdeckung des Blutumlaufs, vor Harvey.
Reibungsgesetze, vor Coulomb.
Gesetz der kommunizierenden Röhren, vor Pascal.
Wirkung des Druckes auf Flüssigkeiten, vor Stevin und Galilei.
Fallgesetze vor Galilei.
Richtige Deutung des Sternflimmerns, vor Kepler, der es nicht zu deuten vermochte.
Erklärung des reflektierten Mondlichts, vor Kepler.
Prinzip der kleinsten Aktion, vor Galilei.
Einführung der Zeichen + und - in die Rechnung.
Aufstellung der lebendigen Kraft aus Schwere und Geschwindigkeit.
Theorie der Verbrennung, vor Bacon.
Erklärung der Bewegung des Meerwassers, vor Maury.
Emporsteigen der Flüssigkeiten in Pflanzen, vor Hales.
Theorie der Versteinerungen, vor Palissy.
Dazu eine Menge von Erfindungen, zumal flugtechnischer wie des Fallschirms, vor Lenormand usw. usw.
Einstein begegnete dieser Aufzählung mit größtem Mißtrauen und erblickte in ihr die Übertreibung einer historisch entschuldbaren aber sachlich irreführenden Quellenspürerei. Man werde verleitet, aufgefundene lose Ansätze, unklare Spuren, vage Hindeutungen als wirkliche Erkenntnisse aufzufassen, »um einen zu erhöhen unter allen«. Daraus ergebe sich ein mythologisches Verfahren, dem vergleichbar, das in der Vorzeit alle erdenkliche Krafttaten auf den einen Herkules gehäuft habe.
Ich erfuhr, daß sich neuerdings in den Kreisen der Fachwissenschaft gegen diesen einseitig gerichteten Eifer eine starke Reaktion geltend mache, um Leonardos Verdienste auf das richtige Maß zurückzuführen. Und Einstein ließ keinen Zweifel darüber, daß er auf der Seite der Ultra-Leonardisten bestimmt nicht zu finden wäre.
Daß diese kräftige Trümpfe in Händen haben, darf nicht verschwiegen werden. Ebensowenig, daß sich die Trümpfe mehren, je weiter die Herausgabe der Leonardo'schen, so schwer entzifferbaren Schriften (im Codex Atlanticus etc.)
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