Einstein - Einblicke in Seine Gedankenwelt
die mathematischen Zusammenhänge weit rascher, sicherer und zudem begieriger erfassen, als wenn ihm mit Worten und Kreidestrichen die Begriffe der Dimension, des Winkels oder gar einer trigonometrischen Funktion eingetrichtert werden. Wie sind denn solche Disziplinen tatsächlich entstanden? In der Praxis, als zum Beispiel Thaies zuerst die Höhe der Pyramiden maß mit Hilfe eines kleinen Stabes, den er am Endpunkt des Pyramidenschattens einstellte. Gebt dem Jungen so einen Stock in die Hand, leitet ihn zum kinderspieligen Experiment damit, und wenn er nicht ganz vernagelt ist, geht ihm die Sache von selbst auf. Es wird ihm Freude machen, wenn er die Höhe des Turmes ermittelt, ohne hinaufgeklettert zu sein, und in dieser Freude steckt die Lust an der planimetrischen Erkenntnis der Dreiecks-Ähnlichkeit und der Proportionalität der Dreiecks-Seiten.
Was die Physik betrifft, fuhr Einstein fort, so darf für den ersten Unterricht überhaupt gar nichts in Frage kommen, als das Experimentelle, anschaulich-Interessante. Ein hübsches Experiment ist schon an sich oft wertvoller, als zwanzig in der Gedankenretorte entwickelte Formeln; einen jungen Geist vollends, der sich in der Welt der Erscheinungen erst zurechtfinden will, soll man mit den Formeln gänzlich verschonen. Sie sind in seiner Physik genau dieselben unheimlichen und abschreckenden Gespenster wie die bezifferten Daten in der Weltgeschichte. Einen sinnigen und geschickten Experimentator vorausgesetzt läßt sich dieses Fach schon in den Mittelklassen beginnen, und mandarf dabei auf eine Empfänglichkeit und ein Verständnis zählen, das den Übungen in der lateinischen Grammatik nur selten entgegengebracht wird.
Es liegt mir nahe, sagte Einstein, bei dieser Gelegenheit auch eines Lehrmittels zu gedenken, das sich bis jetzt erst probeweise in die Klasse gewagt hat, von dessen Ausbau ich mir aber sehr Ersprießliches verspreche. Ich meine den Lehrfilm . Der Siegeszug des Kino wird sich auch in das pädagogische Gebiet fortsetzen, und hier findet es Gelegenheit, durch Tugenden wettzumachen, was es an tausend öffentlichen Schaustätten durch Kitsch, Sittenwidrigkeit und Sensation sündigt. Durch den Lehrfilm, unterstützt vom einfachen Projektionsbild, könnten sich erstlich gewisse Disziplinen, wie die Geographie, die heute als tote Wortbeschreibungen abgehaspelt werden, mit dem pulsierenden Leben einer Weltwanderung erfüllen. Und die Linien auf der Landkarte würden für den Schüler eine ganz andere Physiognomie erhalten, wenn er wie auf einer Reise erfährt, was sie in Wirklichkeit umschließen, und wie es zwischen den Strichen aussieht. Eine Fülle der Belehrung bietet der Film ferner, wenn er dem Schüler in Beschleunigung oder Verzögerung vorführt: Wie wächst eine Pflanze, wie schlägt ein Tierherz, wie bewegt sich ein Insektenflügel. Wichtiger noch erscheint mir der Lehrfilm als Einführer in die wichtigsten Betriebe der industriellen Technik, deren Kenntnis Allgemeingut werden sollte. Wie entsteht ein Kraftwerk, eine Lokomotive, eine Zeitung, ein Buch, eine farbige Illustration, was begibt sich in einem Dynamobetrieb, in einer Glasfabrik, in einer Gasanstalt – wenige Stunden würden genügen, um dem Schüler dergleichen einprägsam darzustellen. Und um auf die Naturkunde zurückzugreifen: Viele der schwereren, mit den Mitteln der Schule nicht darstellbaren Experimente lassen sich filmtechnisch fast mit demselben Deutlichkeitsgrade aufzeigen. Alles in allem: das erlösende Wort im Schulwesen bleibt für mich: die erhöhte Anschaulichkeit. Wo es nur irgend geht, muß das Erlernen zum Erleben werden; und dieses Prinzip wird sich in einer künftigen Schulreform durchsetzen.
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Das höhere Universitätsstudium wurde in diesem Gespräch nur lose gestreift. Es ist bekannt geworden, daß Einstein sich mit äußerster Liberalität für allgemeine Lernfreiheit einsetztund am liebsten die reglementierten Passierscheine zur Teilnahme an den Hörkursen beseitigen möchte. So zu verstehen, daß die Zulassung gewährt werden müßte, sobald der Studienbeflissene seine Fähigkeit für das Verständnis eines bestimmten Vortrags dartut, zum Beispiel durch seminaristische Übungen oder Betätigung im Laboratorium. Den üblichen Nachweis »allgemeiner Bildung« würde Einstein nicht fordern, sondern nur den der speziellen Eignung; zumal nach Einsteins Erfahrung gerade die tüchtigen, zielbewußten Menschen häufig zur Einseitigkeit neigen. Demzufolge wären die
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