Einstein - Einblicke in Seine Gedankenwelt
Mittelschulen sogar mit der Befugnis auszurüsten, das zur Universität berechtigende Reifezeugnis für eine bestimmte, einzelne Disziplin auszustellen, sobald nur der Zögling für dieses Einzelfach den ausreichenden Befähigungsnachweis erbracht hat. Wenn er sich zuvor für die Abschaffung des Abiturs aussprach, so ist ja auch hierin sein Bestreben erkennbar, möglichst alle Pforten zur höheren Bildung für jedermann aufzusprengen. Trotzdem bemerkte ich, daß er auch für den Verlauf der Hochschulstudien selbst nicht auf all und jede Kontrolle der Fähigkeiten verzichten will; wenigstens denjenigen Studiosen gegenüber, die sich später dem Lehrfach zu widmen beabsichtigen. Er wünscht zwar kein Zwischenexamen (nach Art des für Ärzte vorgesehenen tentamen physicum), allein er hält es für ersprießlich, wenn der künftige Lehrer schon in frühen Semestern Gelegenheit erhält, seine Eignung für den Lehrvortrag zu beweisen. Auch hierin offenbart sich Einsteins liebevolle Sorge für das junge Geschlecht, dessen Entwicklungsmöglichkeit durch nichts so sehr bedroht wird, als durch unzulängliche Magister; wobei es denn herauskommt, daß der Schüler möglichst wenig, der Lehrer aber dafür desto schärfer geprüft wird. Ein Lehramtskandidat, der nicht schon in erster Frühe der akademischen Studien seine Eignung, seine persönliche facultas docendi dartut, soll von der Universität entfernt werden.
Es steht außer Zweifel, daß Einstein beanspruchen darf, in all diesen Dingen als Autorität gehört zu werden. Wenige existieren in der Gelehrtenrepublik, denen der Beruf durch das lebendige Wort die Wißbegier zu entzünden und zu befriedigen so leuchtend wie ihm auf dem Gesicht geschrieben steht. Wenn sich heute die Scharen zu ihm drängen, wenn so viele ausländische Institute die Fangarme nach ihm ausstrecken, so zeigt dies eine magnetische Wirkung, die nicht bloß von dem berühmten Forscher ausgeht, ihn umspielt auch der Namensglanz eines Lehrmeisters von hinreißender Persönlichkeit. Man erwäge, was das in seinem Fach besagen will. Dem Philosophen, Historiker, Juristen, Mediziner,Theologen stehen zahllose menschliche Töne zur Verfügung, die er nur anzuschlagen braucht, um des Kontaktes mit der Hörerschaft gewiß zu sein. In Einsteins Fach, der theoretischen Physik, verschwindet der Mensch, und auf ihrem Register ist für die Tasten der Empfindung kein Platz. Ihr Rüstzeug, die Mathematik – und was für eine! – strotzt von formalen Schwierigkeiten, deren Bewältigung nur in Zeichen möglich ist, in einer Sprache, die von Eloquenz in Satzbau, Ausdruck, Erregung nichts weiß. Und da steht ein Physiker, ein Mathematiker, der vom ersten Wort an eine vielköpfige Menge im Bann hält, der aus ihren Intelligenzen sozusagen herausholt, was doch er allein vor ihnen entwickelt. Er klebt nicht am Blatt, nicht an einer im Voraus bis ins Einzelne vorbereiteten und festgelegten Disposition, er gestaltet frei; ohne die mindeste rhetorische Absicht, aber mit der Wirkung, die sich von selbst einstellt, wenn der Hörer sich von einer Strömung getragen fühlt. Er braucht das Wort nicht leidenschaftlich zu unterstreichen, seine leidenschaftliche Liebe zum Lehrfach bleibt unverkennbar. Noch in Denkregionen, in denen sonst nur die vergletscherte Formel als Kennzeichen der Höhe dasteht, findet er Gleichnisse und Bilder von menschlicher Prägung, und mit ihrer Hilfe hilft er manchem Teilnehmer über die mathematische Bergkrankheit. In seinem Vortrag stecken zwei Elemente, die man sonst wohl kaum bei abstrakten Forschern antrifft: das Temperament und die Liebenswürdigkeit. Nie redet er monologisch vor sich hin, wie in ein Vakuum hinein, stets spricht er als einer, der Beziehungen spinnt. Und diese weben sich fort über den Stundenschluß des Tagespensums. Man weiß, Einstein läßt keinen eisernen Vorhang fallen; jeder Hörer, der noch dies und das auf dem Herzen hat, Zweifel, Klarheitsbedürfnisse, Rückstände unbegriffener Ausführungen, hat das Interpellationsrecht. Und Einstein hält jedem Fragesturm Stand. Gerade am Tage, da wir jenes Gespräch führten, kam er direkt aus seiner Vorlesung über den vierdimensionalen Raum, an deren Ende ihn die Hochflut der Fragenden umbrandet hatte. Er erzählte davon nicht wie von einer überstandenen Mühseligkeit, sondern wie von einem Fest. Und mit solchen Erfreulichkeiten ist seine Lehrbahn übersät.
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Es war das letzte Kolleg vor seiner Abreise nach Leyden (im Mai 1920),
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