Einstein - Einblicke in Seine Gedankenwelt
Struktur durchaus folgerecht und notwendig wären. Gesetzt etwa, der menschliche Lebenslauf von Kindheit bis zum Greisenalter würde auf seinen tausendsten Teil in Schrumpfung reduziert, auf einen einzigen Monat, und der Pulsschlag ginge tausendmal so schnell, als ihn unsere Eigenerfahrung aufzeigt, so würden wir eine fliegende Flintenkugel sehr genau von Punkt zu Punkt mit den Blicken verfolgen können, gemächlicher, als wir heut einen Schmetterlingsflug beobachten; weil die Sekunden-Bewegung des Geschosses sich jetzt auf mindestens 1000 Pulsschläge, auf 1000 Wahrnehmungen verteilt, mithin sich an unserer Empfindung gemessen um das 1000fache verlangsamt. Würde dieses Leben nochmals auf den tausendstel Teil, auf etwa 40 Minuten verkürzt, dann würden uns Blumen und Gräser ebenso starr und unveränderlich erscheinen, wie Felsen und Gebirge, deren Verwitterungen von uns nur erschlossen, nicht aber direkt bemerkt werden; vom Wachstum und Verwelken einer Knospe und Blüte würde man zeitlebens nicht viel mehr gewahren, als von den geologischen Umgestaltungen der Erdrinde. Die willkürlichen Bewegungen der Tiere würde man als viel zu langsam gar nicht sehen; höchstens könnte man sie erschließen, wie die Bewegungen der Gestirne. Und bei noch weiterer Verkürzung des Lebens könnte das Licht für uns aufhören ein optischer Vorgang zu sein. An Stelle seiner Sichtbarkeit könnte seine Hörbarkeit treten, während alles, was wir Töne und Geräusche nennen, längst aufgehört hätte, dem Ohr wahrnehmbar zu werden. Schlägt aber die Phantasie den umgekehrten Weg ein, läßt sie das Menschenleben, anstatt es zu verdichten, sich vielmehr enorm erweitern, – welch anderes Weltbild wird dann erlebt! Verlangsamte sich z. B. der Pulsschlag und damit die Wahrnehmungsfähigkeit um das 1000fache, in einem auf etwa 80 000 Jahre angesetzten Menschenleben, erlebten wir also in einem Jahre nur so viel, wie jetzt im Drittel eines Tages, dann würden wir in jevier Stunden den Winter hinwegschmelzen, die Vegetation aufsprießen und wieder abwelken sehen. Manche Entwickelung könnte wegen ihrer relativen Schnelligkeit, im Verhältnis zum Pulsschlag gar nicht wahrgenommen werden. Ein Pilz stünde z. B. plötzlich aufgeschossen da, wie ein Springbrunnen. Wie eine helle und dunkle Minute wechselten Tag und Nacht, und die Sonne flöge wie ein Projektil über den Himmelsbogen. Würde aber solches Menschenleben abermals um das 1000fache verzögert, könnte also der Mensch während eines Erdjahres nur etwa 190 distinkte Wahrnehmungen machen, dann fiele der Unterschied zwischen Tag und Nacht gänzlich fort, der Sonnenlauf erschiene als ein glühender Bogen am Himmel, und alle Gestaltungen, die uns in ruhigem Nacheinander geordnet und bleibend erscheinen, würden in Hast des Geschehens zerfließen, vom wilden Sturm des Geschehens verschlungen werden.
Dürfen wir gegen diese relative Zeitwahrnehmung wirklich »unsere« Zeit, also etwas Spezifisches, von unserer Menschenstruktur Abhängiges, ausspielen? Könnten wir nicht vielmehr zu der Einsicht gelangen, daß dieses auf unseren besonderen Pulsschlag eingestellte Zeitspezifikum nur ein höchst beschränktes Weltbild, eines unter unendlich viel möglichen liefert, wie es gerade von den Schranken dieser bestimmten Intelligenz bedingt und determiniert wird? Vielleicht sogar ein Zerrbild, eine Karikatur des wirklichen Geschehens?
Ein unendlich überlegener Geist wäre nicht mehr abhängig von Einzelwahrnehmungen, wie sie uns unter dem Rhythmus des Pulses zugeführt werden. Für ihn gäbe es keine Metronomisierung im Ablauf der Geschehnisse, außerhalb dessen, was unserem Verstande sich als Zeit darstellt. Er stünde jenseits und außerhalb der Zeit, in dem, was Aquino das »Nunc stans« nennt, im stehenden Gegenwartspunkt, ohne Rückblick auf eine Vergangenheit, ohne Erwartung einer Zukunft. Ohne Vorher und Nachher gewänne für ihn das Weltgeschehen den klarsten, allereinfachsten Sinn, wie eine identische Gleichung. Was uns als »Ablauf« der Ereignisse vorschwebt, flösse zusammen in eines, wie uns im Nacheinander des Zählens ein Zahlengesetz, wie uns im Ablauf der logischen Operationen eine logische, selbstverständliche Grundwahrheit. Wenn der von Laplace imaginierte Geist existiert, so ist er der Mühe überhoben, in seine Weltgleichungen die Zeitgröße einzusetzen, denn diese ist eine rein anthropomorphe, durch unsere Wahrnehmungen erzeugte, durch unseren Eigenpuls regulierte Größe.
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