Einstein - Einblicke in Seine Gedankenwelt
Geschehens greift die wirkliche Natur eine ganz engbegrenzte Mannigfaltigkeit heraus. Die wirklichen Gesetze sind also viel einschränkender, als die uns bekannten. Zum Beispiel würde es nicht gegen die bisher bekannten Gesetze verstoßen, wenn wir Elektronen von beliebiger Größe oder Eisen von beliebigem spezifischem Gewicht vorfänden. Die Natur aber realisiert nur Elektronen von ganz bestimmter Größe und Eisen von ganz bestimmtem, spezifischem Gewicht. *
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Vergegenwärtigen wir uns jedenfalls, daß es in letzten Erkenntnissen keine letzten Instanzen gibt. Eine solche ist auch dann nicht anzunehmen, wenn man im Verfolg einer Lehre an eineSchwierigkeit gerät, die zuerst mit den Anzeichen verbalen, begrifflichen, antinomischen Widerspruchs auftritt. Vielmehr kann man sich darauf verlassen, daß gerade den feinsten und folgenschwersten Untersuchungen eine Fiktion und in dieser ein vorläufiger Widerspruch zum Ausgangspunkt dient. Wir besäßen keine Infinitesimalrechnung, keine Algebra, keine Atomistik, keine Gravitationslehre, wenn wir aus ihnen, um jeden Widerspruch von vornherein auszuschalten, die Fiktion des Differentials, der Imaginärgröße, des Atoms, der actio in distans ausschalten müßten. Ja, ganz summarisch gesprochen: nicht nur die Erkenntnis, sondern auch das Leben, der Zusammenhalt der Menschheit durch Vertrag, Gesetz und Pflicht würde zur Unmöglichkeit ohne die Anerkennung der Fiktion vom freien Willen, die im schärfsten Widerspruch steht zur naturgesetzlich einzig erkennbaren Determiniertheit alles Geschehens, einschließlich aller Handlungen und Motive.
Fiktion (wohl zu unterscheiden von Hypothese) und Anthropomorphismus, sie sind trotz ihrer inneren Unnahbarkeit die Pole, um die unser Denken und das menschliche Geschehen kreist. Und keine Lehre wird jemals so hoch fliegen, daß sie die Herkunft von jenen Wurzeln alles Denkens gänzlich verleugnen könnte. Der Archimedeische Denkpunkt [Drehpunkt?] im Universum, von dem aus die Welt aus den Angeln gehoben werden könnte, ist unerreichbar, weil er nicht existiert.
Sollte sich das am Ende auch auf die neue Physik an sich beziehen, deren Ergebnisse doch als die letzten Worte naturwissenschaftlicher Erkenntnis zu gelten haben? Manch ein Gedankengrübler könnte wohl im Zuge des vorangehenden Satzes den Drang verspüren, mit einem Ja zu antworten, wenn sich nicht auch hier ein Widerspruch meldete. Der äußert sich darin, daß von den heutigen Philosophen wohl keiner imstande ist, die Fasern dieser theoretischen Gewebe bis in ihre Grundwurzeln zu verfolgen.
Hier scheiden sich die Wege: wer es darauf anlegt, sich in Einsteins neuem Weltsystem durchaus zurechtzufinden, der hat mit dem Studium der Theorie so viel zu tun, daß ihm daneben kaum die Möglichkeit zur letzten philosophischen Analyse verbleibt. Wer aber nur vom Philosophentrieb beherrscht sich mit der Sache beschäftigt, der gerät schnell genug an Erkenntnisgrenzen, wo sich sein wissenschaftliches Gewissen warnend meldet. Er wird Zweifeln anheimfallen, die ihm zurufen: hast du es denn auch wirklich ganz verstanden? Steht es dir zu, letzte philosophische Folgerungen zu ziehen, bevor du die letzten mathematischen Schwierigkeiten überwunden hast?
Soweit zu übersehen, hat bisher nur ein Einziger die Vielseitigkeit in sich aufgebracht, um das Physiktheoretische mit dem Erkenntheoretischen methodisch zu vereinigen. Es ist Moritz Schlick in Rostock, der die Früchte seiner Arbeit in einer systematischen »Erkenntnislehre« niedergelegt hat. Ein außerordentliches, fernhinstrahlendes, über Kant hinausgreifendes Werk. Für Schlick bildet Einsteins Lehre den Schlüssel zu neuen, vordem ungesehenen Pforten, ein wunderbares Werkzeug der Erschließung , das vielleicht noch wunderbarer wirken würde, wenn es gelänge, bei Handhabung des Instrumentes allen Anthropomorphismus zu überwinden. In dieser Einschränkung mag eine Utopie liegen, oder der Ansatz zu einem circulus vitiosus. Aber wir besitzen ja heute eine Lehre, die sich auf das Unvollziehbare erstreckt, »Als Ob« es vollziehbar wäre. Und unter den Jüngern Vaihingers, des Meisters der Als-Ob-Schule, macht sich allerdings das Bestreben geltend, auch auf diesem Felde den anthropomorphen und fiktiven Spuren nachzugehen.
Einstein selbst stellt sich, wie ich aus zahlreichen Äußerungen entnehmen muß, nicht mit unbedingter Sympathie zu allen Versuchen, den letzten Problemen mit reiner Philosophie, vollends auf metaphysischen
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