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Einstein, Orpheus und andere

Einstein, Orpheus und andere

Titel: Einstein, Orpheus und andere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Samuel R. Delany
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Grünauge blickte mich an. Auch er hatte die Leute auf der Straße beobachtet. Ich konnte an nichts anderes denken, also begann ich wieder zu spielen. Ich wollte Spinne nicht gern von dem Mann in dem Wagen gestern nacht erzählen.
    Nun drangen die Stimmen bis zu uns.
    Da entschloß ich mich, es ihm doch besser zu sagen. Er äußerte sich nicht dazu.
    Plötzlich spornte Grünauge seinen Drachen an. Spinne versuchte, ihn zurückzuhalten. Aber er entschlüpfte einer Hand nach der anderen. Kummer ließ sich über Spinnes bernsteinfarbenen Augen nieder. Grünauges Reittier stampfte davon.
    »Du glaubst, er sollte besser nicht zu denen gehn?« fragte ich.
    »Er muß wissen, was er tut.« Die ganze Straße war voller Leute.
    »Hoffe ich jedenfalls.«
    Ich sah sie herankommen, erinnerte mich an Pistol. Sein Entsetzen muß sich im nächtlichen Branning verbreitet haben wie Öl im Hafen. Drachen trieben die Straße hinab, Leute trieben herauf.
    »Was wird geschehen?«
    »Sie werden ihm zujubeln«, sagte Spinne. »Jetzt. Später, wer weiß?«
    »Mich meine ich«, sagte ich, »ich meine, was wird mir geschehen?«
    Er war überrascht.
    »Ich muß Friza finden. Daran hat sich nichts geändert. Ich muß Kid Death vernichten. Es ist immer noch das gleiche.«
    Ich erinnerte mich an Pistols Gesichtsausdruck, als er vor Kid geflohen war. Spinnes Gesicht – die Erkenntnis schockierte mich – zuckte unter der gleichen Angst. Aber es war so sehr viel mehr noch in diesem Gesicht: Stärke lag neben der Angst über den Muskeln. Ja, Spinne war ein vielseitiger Mann.
    »Ich mache mir nichts aus Grünauge oder aus sonstwem. Ich werde hinuntergehen und Friza holen. Und ich werde mit ihr wieder heraufkommen.«
    »Du …«, begann er. Dann nahm mich seine Größe an. »Ich wünsche dir viel Glück.« Wieder schaute er hinter Grünauge her, der vor uns auf die Menge zuschwankte. So viel von Spinne ritt da vorn mit dem Jungen. Ich stellte nicht fest, wieviel von ihm bei mir verweilte.
    »Dann hast du also deinen Job erfüllt, Lobey. Wenn wir die Herde abgeliefert haben, wirst du bezahlt …« Er brach ab. Ein neuer Gedanke. »Komm in mein Haus und hol dir deinen Lohn ab.«
    »Dein Haus?«
    »Ja. Mein Heim in Branning-at-Sea.« Er rollte die Peitsche zusammen und lenkte den Drachen mit den Knien.
    Wir kamen wieder an einer Tafel vorbei. Die weißhaarige Frau mit den kühlen Lippen und den warmen Augen blickte mich launig an, als ich vorüberritt.
    DIE TAUBE SAGT: »WARUM NEUNUNDNEUNZIG NEHMEN, WENN ES NEUNTAUSEND GIBT?«
    Ich wandte ihrem Spott den Rücken und fragte mich, wie viele Leute durch den Morgen heranschwärmten. Sie standen zu beiden Seiten der Straße. Als sie den jungen Hirten erkannten, zerfiel ihre Hymne zu Jubelrufen. Wir drangen in die Menge ein.
    Ein Dschungel ist eine Myriade einzelner Bäume, Ranken, Lianen, Büsche. Wenn du jedoch hindurchgehst, siehst du sie als eine grüne Masse. Wenn man eine Menschenmenge betrachtet, ist es genauso: zuerst das einzelne Gesicht hier (die alte Frau, die ihren grünen Schal wringt), dort (der blinzelnde kleine Junge, der zahnlückig lächelt) und dann (drei gaffende Mädchen, die einander um die Schulter gefaßt haben). Dann Schwärme von Ellbogen und Ohren, Zungen, die Wörter vom Boden der Münder kratzen und sie hinausstoßen: »– rück mal!« – »Aua! Nimm doch deinen –« – »– ich kann nichts sehen –« – »Wo ist er? Ist er der da?« – »Nein!« – »Ja!«, während die Drachenrücken durch die Menge von Köpfen wogten. Sie jubelten. Sie warfen die Fäuste vor dem Tor wedelnd in die Höhe. Mein Job ist beendet, dachte ich. Leute rempelten mein Reittier an. »Ist er das? Ist das …« Die Drachen fühlten sich unglücklich. Nur Spinnes beruhigender Einfluß bewirkte, daß sie friedlich vorwärtswanderten. Wir drängten uns durch das Tor nach Branning-at-Sea hinein. Und danach ereignete sich ziemlich viel.
    Ich verstehe nicht alles davon. In den ersten paar Stunden waren es Dinge, wie sie jedem passieren würden, der niemals mehr als fünfzig Personen auf einmal gesehen hat und der nun Tausende sieht, die sich in Hintergassen, breiten Straßen und auf Plätzen drängen. Die Drachenherde schied von mir (oder ich von ihr, um mit offenstehendem Mund und erhobenem Kopf herumzustolpern). Leute rannten in mich hinein und befahlen mir: »Paß doch auf!«, was ich ja haargenau zu tun versuchte; nur versuchte ich, auf alles gleichzeitig aufzupassen. Und das wäre schwierig gewesen,

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