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Einstein, Orpheus und andere

Einstein, Orpheus und andere

Titel: Einstein, Orpheus und andere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Samuel R. Delany
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hast.
    Offenbarung Johannis / 2. Kapitel, Vers 4
     
    Mein Kummer ist, daß ein solches Thema nicht ernsthaft betrachtet werden kann, ohne daß es sich auf einen Mittelpunkt zu konzentriert, der jenseits von dem liegt, was ich – oder irgendwer sonst – zu schreiben in der Lage wäre … Der Versuch allein, in Vorm von moralischen Problemen zu schreiben, ist mehr, als ich wahrscheinlich kann. Meine größte Hoffnung besteht darin, das Thema und meine Unwissenheit von Anfang an klarzumachen.
    James Agee / Brief an Pater Flye
     
    Wo ist jenes Land? Und wie gelangt man dahin? Wenn man ein geborener Liebender ist mit einem angeborenen Hang zur Philosophie, dann wird man dorthin gelangen.
    Plotinos / Enneaden
     
    Spinne blickte von dem Tisch auf, an dem er gelesen hatte. »Ich dachte es mir, daß du das sein würdest.«
    Im Schatten hinter ihm sah ich die Bücher. La Dire hatte ein paar hundert besessen. Aber die Regale hinter ihm reichten vom Boden bis zur Decke.
    »Ich möchte … mein Geld.« Meine Augen richteten sich wieder auf den Tisch.
    »Setz dich«, sagte Spinne. »Ich muß mit dir reden.«
    »Worüber?« fragte ich. Unsere Stimmen hallten wider. Die Musik war jetzt fast verstummt. »Ich muß mich auf den Weg machen, um Friza zu finden und Kid Death.«
    Spinne nickte. »Darum schlage ich dir vor, dich erst mal hinzusetzen.« Er drückte auf einen Knopf, und Staubteilchen in der Luft bildeten einen langen Lichtkegel, der auf einen Onyxhocker vor dem Tisch fiel. Wie Spinne früher den Griff seiner Drachenpeitsche von einer Hand in die andere genommen hatte, so spielte er nun mit dem ausgebleichten zerbrechlichen Schädel eines Nagetiers. »Was verstehst du von Mythologie, Lobey?«
    »Ich kenne nur die Geschichten, die La Dire, eine von den Ältesten in meinem Dorf, mir erzählt hat. Sie erzählte allen jungen Leuten Geschichten, und manche davon immer wieder. Und wir erzählten sie einander, bis sie fest in unserem Gedächtnis saßen. Und zu diesem Zeitpunkt gab es schon wieder neue Kinder, denen sie Geschichten erzählen konnte.«
    »Noch mal, was verstehst du von Mythologie? – Ich habe dich nicht gefragt, welche Mythen du kennst, auch nicht, woher sie kommen, sondern warum wir Mythen haben und wozu wir sie gebrauchen.«
    »Ich … ich weiß es nicht«, sagte ich. »Als ich mein Dorf verließ, erzählte mir La Dire den Mythos von Orpheus.«
    Spinne hob den Schädel hoch und beugte sich vor. »Warum?«
    »Um mich zu leiten?«
    Ich hatte sonst nichts anzubieten. Spinne fragte: »War La Dire anders?«
    »Sie war …« Die Lüsternheit, die das Gelächter der Kinder durchsiebt hatte, wie sie da vor dem Plakat standen, kam mir ins Gedächtnis zurück. Ich verstand es immer noch nicht, aber dennoch spürte ich, daß meine Ohren heiß wurden. Ich erinnere mich daran, wie Easy, Little Jon und Lo Hawk versucht hatten, mein dumpfes Brüten über Frizas Tod zu durchbrechen; und wie La Dire es versucht hatte: ein Versuch wie der der anderen – und doch anders. »Ja«, gestand ich, »sie war anders.«
    Spinne nickte und trommelte mit den harten Fingerknöcheln auf den Tisch. »Begreifst du, was Andersartigkeit ist, Lobey?«
    »Ich lebe in einer anderen Welt, wo viele sie besitzen und viele nicht. Ich habe es selber in mir erst vor ein paar Wochen entdeckt. Ich weiß, daß die Welt sich darauf zu bewegt mit jedem Pulsieren des großen Rock und des großen Roll. Aber ich begreife es nicht.«
    Spinne lächelte. »Darin unterscheidest du dich nicht von uns anderen. Alles, was irgendeiner von uns weiß, ist nur, was Andersartigkeit nicht ist.«
    »Was ist sie nicht?« fragte ich.
    »Sie ist nicht Telepathie, sie ist nicht Telekinese – obwohl beides zufällig Phänomene sind, die zunehmen, wenn die Andersartigkeit zunimmt. Lobey, die Erde, unsere Welt – die Spezies, die auf zwei Beinen läuft und über diese dünne Kruste wandert: alles ändert sich, Lobey. Es ist nicht mehr das gleiche. Manche Menschen wandeln unter der Sonne und nehmen diesen Wechsel an, andere verschließen ihre Augen, schlagen die Hände über die Ohren und leugnen die Welt mit ihren Zungen. Die meisten kichern und tuscheln und spotten und zeigen mit den Fingern, wenn sie glauben, daß niemand sie sieht – so haben die Menschen sich während ihrer ganzen Geschichte verhalten. Wir haben ihre verlassene Welt übernommen, und etwas Neues geschieht mit den Bruchstücken, etwas, das wir nicht einmal mit dem übriggebliebenen Wörtern der Menschheit

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