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Einstein, Orpheus und andere

Einstein, Orpheus und andere

Titel: Einstein, Orpheus und andere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Samuel R. Delany
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selbst wenn sich nichts bewegt hätte. Während ich in eine Richtung aufpaßte, kroch hinter mir etwas anderes heran und rannte mich fast über den Haufen. Hier ein paar Details für euch:
    Die Musik der Millionen verschmolz zu einem Gesang, ähnlich wie wenn dir die Ohren klingen und du zu schlafen versuchst. In einem Dorf siehst du ein Gesicht, und du kennst es: seine Mutter, seinen Vater, seine Arbeit, wie es flucht, lacht, bei einem Ausdruck beharrt, einen anderen vermeidet. Hier aber gähnt ein Gesicht, ein anderes bläht sich mit Essen; eins ist entstellt, ein anderes sehnsüchtig, vielleicht vor Liebe, ein anderes schreit: und jedes ein Gesicht von Tausenden, und keines siehst du öfters als einmal. Du fängst an, die Einrichtung in deinem Kopf umzustellen, um einen Platz für diese Gesichter zu finden, eine Stelle, an der du alle diese Viertelgefühle abladen kannst. Wenn du durch das Tor in Branning-at-Sea gehst und das Land hinter dir zurückläßt, dann kehrst du mit deinem Wortschatz aufs Land zurück, um die Stadt zu beschreiben: Ströme von Männern und Sturzbäche von Frauen, Stürme von Stimmen, Regen von Fingern und Dschungel von Armen. Aber es wird Branning nicht gerecht. Es wird auch dem Land nicht gerecht.
    Ich streunte durch die Straßen in Branning-at-Sea, schlenkerte mein unspielbares Messer, gaffte die fünfstöckigen Häuser an, bis ich die Gebäude mit fünfundzwanzig Stockwerken entdeckte. Gaffte die an, bis ich ein Gebäude mit so vielen Stockwerken sah, daß ich sie nicht mehr zählen konnte, denn in halber Höhe (ungefähr bei neunzig) verzählte ich mich ständig, weil mich die Leute schubsten.
    Es gab ein paar schöne Straßen, in denen Bäume ihre Blätter an den Mauern rieben. Es gab viele schmutzige Straßen, in denen Abfall auf den Gehsteigen aufgeschichtet war, in denen die Häuser zusammengepreßte Schachteln waren, zwischen denen kein Platz war für die Bewegung der Luft und der Leute. Die Leute stagnierten, die Luft stagnierte; beide stanken.
    An den Mauern hingen verblichene Plakate mit der Taube. Es gab hier aber auch noch andere. Ich kam an einigen Kindern vorüber, die sich vor so einem Plakat, das runzelig an einem Zaun hing, gegenseitig mit den Ellbogen stupsten. Ich quetschte mich zwischen die Kinder, um zu sehen, was sie sich anschauten.
    Zwei Frauen stierten idiotisch aus wirbelnden Farben hervor. Die Unterschrift: »DIESE ZWEI IDENTISCHEN ZWILLINGE SIND NICHT GLEICH!«
    Die Gören kicherten und schubsten einander herum. Offensichtlich entging mir etwas an dem Plakat. Ich wandte mich an einen der Jungen: »Ich kapier’ das nicht.«
    »Hm?« Er hatte Sommersprossen und eine Armprothese. Er kratzte sich mit den Kunststoffingern den Kopf. »Was meinst du?«
    »Was ist komisch an diesem Bild?«
    Ungläubig zuerst, dann grinste er. »Wenn sie nicht gleich sind«, platzte er heraus, »dann sind sie anders! « Alles lachte. Ihr Lachen war von jenem Kichern durchflochten, das dir sagt, wenn ein Lachen dreckig ist.
    Ich drängte mich durch sie hindurch und davon. Ich suchte Musik, hörte keine. Nachdem du oft angehalten hast, um zu lauschen, nach der Suche – wenn diese Gehsteige mit ihren Massen deine Fragen nicht mehr ertragen: das ist Einsamkeit, Friza. Ich drückte mein Messer fest an mich und rannte ungestüm durch den Abend, isoliert, als hätte ich mich in einer City verirrt.
     
    Die geschichteten Töne der Cellosonate von Kodály! Ich wirbelte auf den Hacken herum. Die Steinplatten waren sauber und nicht zerbrochen. An der Ecke standen Bäume. Die Gebäude ragten hoch auf hinter den Bronzetoren. Die Musik entwirrte sich in meinem Kopf. Blinzelnd blickte ich von Tor zu Tor. Ich wählte eines aus. Zögernd ging ich die flachen Marmorstufen hinauf und schlug den Griff meiner Machete gegen die Stäbe.
    Das Klingen hüpfte die Straße hinab. Der Ton erschreckte mich, aber ich klopfte noch einmal.
    Hinter dem Tor schwangen die bronzebeschlagenen Türflügel nach innen. Dann klickte das Schloß, und das Torgitter selbst öffnete sich ratternd. Vorsichtig betrat ich den Weg, der zu der offenen Tür führte. Ich warf einen verstohlenen Blick in den schattigen Eingang, dann trat ich hinein, blind von der Sonne und allein mit der Musik.
    Meine Augen gewöhnten sich an das schwächere Licht. Weit vorn war ein Fenster. Hoch oben in dem dunklen Stein wand sich ein Drache durch ein Bleimosaik.
    »Lobey?«

 
11.
     
    Doch ich habe gegen dich, daß du deine erste Liebe verlassen

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