Einstein, Quantenspuk und die Weltformel (German Edition)
Raum waren fortan gleichberechtigt. Auch für den Nachbarn gab es jetzt nur noch zweitausend Euro. Dafür war die Gleichung viel komplizierter, als sie es zuvor gewesen war. Doch das war nicht der einzige Tribut, den Dirac zollen musste. Die Rechnung sollte sehr viel höher ausfallen. Denn in seinem wissenschaftlichen Eifer hatte Dirac ein zweischneidiges Schwert geschmiedet. Einerseits vertrug sich die Dirac-Gleichung mit der speziellen Relativitätstheorie und beschrieb zudem erstmals eine weitere wichtige Eigenschaft von Elementarteilchen, den so genannten Spin. Der Spin ist eine Art Drehbewegung, die sich jedoch nicht klassisch (das heisst mit der Physik, die aus dem Alltag bekannt ist) erklären lässt. Das heisst: Für den Spin gibt es in der „normalen“ Welt keine realitätsgetreue Veranschaulichung. Andererseits erlaubte die Dirac-Gleichung nun aber auch sehr merkwürdige Ergebnisse, nämlich negative Energiezustände. Demnach kann ein Teilchen weniger Energie haben als gar keine Energie. Zugegebenermassen eine eigenartige Vorstellung.
Dirac liess sich davon nicht beirren. Er war überzeugt, dass jedes mathematische Ergebnis in der Natur einen Sinn ergibt. Er vertraute auf die Bedeutungskraft der Mathematik und akzeptierte das negative Ergebnis als negativen Energiezustand. Zunächst ohne zu wissen, was sich dahinter verbirgt. Sollte es Teilchen geben, die sich langsamer bewegen als gar nicht? Sollte es Teilchen geben, die weniger Energie haben als gar keine Energie? Sollte es Teilchen geben mit weniger Materie als gar keiner Materie? Wenn Dirac Recht behalten sollte und seine Gleichung stimmte, musste es etwas geben, das weniger als nichts wog. Eine Masse mit einem negativen Gewicht. Was, um alles in der Welt, sollte das schon wieder sein? Was kann weniger wiegen als gar nichts? Die Physiker langten sich an den Kopf. Beschleicht die Welt eine seltsame Form von Materie, die uns bisher nicht begegnet ist? Oder uns auf alle Fälle aus dem Alltag gänzlich unbekannt ist? Dirac gab sich überzeugt. Das negative Ergebnis unterscheidet sich trivialerweise nur durch das Vorzeichen vom positiven Ergebnis. Der Unterschied zwischen Schulden und einem Guthaben auf dem Bankkonto besteht mathematisch betrachtet auch nur in einem Vorzeichen. Deshalb steht es für nichts anderes als dessen Gegenteil. Das Gegenteil von Schulden ist Guthaben. Das negative Ergebnis der Dirac-Gleichung ist nichts anderes als das Gegenstück der Materie. Die Antimaterie. Unsere Welt ist nicht allein. Und plötzlich ergaben beide Resultate einen Sinn.
Die Wissenschaft wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte. Da kam einer, Dirac, den man bisher für ganz seriös gehalten hatte, und postulierte aufgrund eines Vorzeichens die Existenz einer seltsamen Antimaterie, unter der sich kaum jemand etwas vorstellen konnte – und schon gar nicht wollte. Nicht überall stiess seine durchaus seltsame Theorie auf Gegenliebe. Da half es auch nicht viel, dass Dirac in den idyllischen Walliser Bergen aufgewachsen war oder zuletzt an der renommierten Cambridge Universität studiert hatte. Schliesslich basierte die Existenzgrundlage dieser fremdartigen Materie nur auf einem „Herumexperimentieren mit Gleichungen“ 45 und war daher doch recht hypothetischer Natur. Die Physikwelt kränkelte vielleicht auch noch immer am Schlag, den ihr die wissenschaftliche Revolution um die Jahrhundertwende versetzt hatte. Die Vorhersage der Antimaterie wirkte nicht besonders beruhigend auf die alten Wunden und kaum einer wagte sich auszumalen, wie folgenreich der experimentelle Nachweis von Antimaterie für das Weltbild sein würde.
Die Vorhersage der Antimaterie war auf alle Fälle gewagt. Ein kühner Klimmzug gegen den reissenden Strom. Doch nur vier Jahre später lieferte der amerikanische Physiker Carl Anderson den entscheidenden Beweis. In einem Experiment stellte er fest, dass Höhenstrahlung fremdartige Teilchen freisetzt, so genannte Positronen, wenn sie Materie durchdringt. Positronen sind nichts anderes als Antielektronen, also gewissermassen die Elektronen der Antimaterie. Damit war die Existenz der Antimaterie bewiesen. Antimaterie gibt es tatsächlich. Für diese sensationelle Entdeckung erhielt Anderson im Jahr 1936 den Nobelpreis. Auch Dirac erntete die Früchte seiner Arbeit. Er erhielt die begehrte Auszeichnung noch im selben Jahr. Dirac hatte nach einer relativistischen Formel gesucht und die Antimaterie gefunden. Eine der grössten Entdeckungen
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