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Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen

Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen

Titel: Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Lenz
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Krankenhaus vorbei, durch die Unterführung, zum Rand eines kleinen Industriebezirks Ich dankte ihnen und ging zur Telefonzelle und wählte die Nummer der Schule. Mein Unterricht hätte langst begonnen haben müssen. Niemand nahm ab. Ich wählte meine eigene Nummer, ich sagte in das Erstaunen meiner Frau: Erschrick nicht, ich hatte einen Unfall, mir ist nichts passiert. Sie fragte: Ein Kind? - und ich schnell: Ein Ausländer, vermutlich ein Gastarbeiter, ich muß ihn fortbringen; bitte, verständige du die Schule. Bevor ich die Telefonzelle verließ, drehte ich noch einmal die Nummer der Schule, jetzt ertönte das Besetztzeichen. Ich ging zu meinem Auto zurück, vor dem zwei Taxifahrer standen und gelassen meinen Schaden zum Anlaß nahmen, um über eigene Schäden zu sprechen, wobei sie sich gegenseitig zu überbieten versuchten. Das Auto war leer. Ich beugte mich über den Rücksitz, beklopfte ihn - die Taxifahrer konnten sich an keinen Mann erinnern, doch sie schlossen nicht aus, daß er nach vorn gegangen war und sich - vielleicht - den ersten Wagen genommen hatte. Ein südländischer Typ, Schirmmütze, noch dazu verletzt, wäre ihnen gewiß aufgefallen. Sie wollten wissen, wo mich das Pech erwischt hatte, ich erzählte es ihnen und sie schätzten den Schaden - vorausgesetzt, daß ich gut wegkäme - auf acht-hundert Mark. Langsam fuhr ich zur Liegnitzerstraße, am Krankenhaus vorbei, durch die Unterführung, zum Industriebezirk. Eine kleine Drahtfabrik, deren Gelände mit löchrigem Maschendraht eingezäunt war; schwere Pressen, die Autowracks zu handlichen Blechpaketen zusammenquetschten; an trüben Hallen fuhr ich vorbei, die sich Reparatur-Werkstätten nannten, an Speditionsfirmen und verschneiten Lagerplätzen, über die nicht eine einzige Fußspur führte.
      Die Liegnitzerstraße schien nur aus einem schirmenden, mit Plakaten vollgeklebten Bretterzaun zu bestehen, hinter dem starr gelbe Kräne aufragten; keine Wohnhäuser; zurückliegend, türlos, mit zerbrochenen Fenstern eine aufgelassene Fabrik; schwarze Rußzungen zeugten immer noch von einem Brand. In einer Lücke entdeckte ich Wohnwagen, deren Räder tief in den Boden eingesackt waren. Ich hielt an, verließ das Auto, ging durch den schmutzigen Schnee zu den Wohnwagen hinüber; die Arbeiter waren fort. Die Fenster der Wohnwagen waren mit Gardinen verhängt, auf den eingehängten Treppen lagen Reste von Streusalz; Rauch stieg aus einem blechernen Schornstein auf.
      Vermutlich hätte ich die Wagen nur umrundet und wäre fortgegangen, wenn sich nicht eine Gardine bewegt, wenn ich nicht den beringten Finger gesehen hätte, der den gehäkelten grauen Stoff zu glätten versuchte; so stieg ich die Treppe halb hinauf und klopfte. Ein hastiger, zischender Wortwechsel im Innern, dann wurde die Tür geöffnet, ich sah nah vor meinem Gesicht den Siegelring an der Hand, die jetzt auf der Klinke lag. Den Blick hebend, wuchs er bedrohlich vor mir auf: die schwarzen Halbschuhe mit weißer Kappe; die engen gebügelten Hosen; der kurze mit Pelzkragen besetzte Mantel; aus der oberen Jackentasche leuchtete das Dreieck eines Seidentuchs. Höflich, in gebrochenem Deutsch, fragte er mich, wen ich suchte, da hatte ich schon, an seiner Hüfte vorbeisehend, den Mann auf der untern Liegestatt des doppelstockigen Bettes erkannt, zeigte bereits mit der Hand auf ihn: Er dort, zu ihm will ich. Ich durfte eintreten. Vier Betten eine Waschgelegenheit, an den unverkleideten Holzwänden angepinnte Postkarten, Familienbilder, aus Zeitungen ausgeschnittene Photographien: dies war das Inventar, das ich zuerst bemerkte; später, nachdem der auffällig gekleidete Mann mir einen Hocker angeboten hatte, entdeckte ich Kartons und Pappkoffer unter den Bettgestellen.
      Der Verletzte lag ausgestreckt unter einer Decke, auf der in roter Schrift das Wort »Hotel« zu lesen war; seine dunklen Augen glänzten in der Trübnis des Innern. Er nahm meinen Gruß gleichgültig auf, kein Zeichen des Wiedererkennen, weder Furcht noch Neugier. Herr Üzkök hatte einen Unfall, sagte der Mann mit dem Siegelring. Ich nickte und fragte nach einer Weile, ob ich ihn nicht zum Arzt fahren sollte. Der Siegelring winkte lebhaft ab: nicht nötig, Herr Üzkök sei in bester ärztlicher Pflege, zwei Tage schon, seit er diesen Unfall auf dem Bau hatte, auf der Baustelle. Ich sagte: Heute morgen, ich bin wegen des Unfalls heute morgen gekommen, worauf der Mann sich schroff zu dem Verletzten wandte und ihn etwas in

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