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Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen

Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen

Titel: Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Lenz
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gleichen, obwohl man hier in Verlegenheit käme, wenn man den ersten Preis für Trostlosigkeit zu vergeben hätte: mein altes, zugiges Fenster entdeckte ich sofort, dort im dritten Stock... Stallgeruch vermutlich... Das Pappstück oben links dürfte neu sein, aber der Rahmen zum Wäschetrocknen - man hängt ihn ein und sichert ihn mit zwei Flügelschrauben - stammt garantiert noch aus meiner Zeit... Mein altes Fenster, an der Rückfront des Schachtes, der zum Bahndamm hin offen ist... Im Gegenteil, Thea - in den ersten Monaten war es eine befremdliche, eine erregende Aussicht: die matt blinkenden Geleise abends, bevor die Nebel kamen und alle Regungen und Geräusche entweder verbargen oder verdünnten - ich nannte das meine »DickensStunde«... Oder wenn - an Sonntagnachmittagen - alle Dinge, wie auf Verabredung, ihre Farbe einbüßten oder in diesem Londoner Licht eine neue Farbe annahmen, nämlich die Farbe der Trostlosigkeit: ich nannte das die »Loewenberg-Stunde«, nach einem jungen Dichter, der mit seinem einäugigen Vater im Nebenhaus wohnte, beide Emigranten wie ich... Hier wohnte er, und manchmal las er mir vor... Oder wenn altmodische Lokomotiven erstaunlich lange Züge vorbeischleppten - beinah jedesmal fühlte ich mich versucht, die Anzahl der Waggons zu erraten, bevor ich mich ans Zählen machte; manchmal schloß ich sogar Wetten mit mir selbst ab... Ganz recht, Eugen, das waren dann schon die ersten Zeichen dafür, daß ich mich einzugewöhnen begann. Ich nehme an, dir wird es in der Nähe vom Belgrave-Square ähnlich gegangen sein... Natürlich haben, vom Zug aus gesehen, alle Vorstädte etwas Trostloses, aber das Gefühl inspirierender und unüberbietbarer Trostlosigkeit - das erlebst du nur bei der Einfahrt nach London.
      Ja, und hier: der Gegenschuß, das Haus von der Vorderseite - ich habe die Bilder in eine bestimmte Reihenfolge gebracht. Diesmal hatte Eva die Hand am Auslöser... die beiden Männer vor dem imposanten Spalier der Abfalltonnen: Charles und ich, mühelos zu erkennen; ich überreiche meinem ehemaligen Hauswirt gerade ein Päckchen schwarzen krausen holländischen Tabak, seinen Lieblingstabak. Er war Lehrer an einer Abendschule, gab Geschichte und Heimatkunde - viele Eisenbahner waren seine Schüler; im ersten Weltkrieg wurde er bei dem Versuch verwundet, das Maskottchen seiner Einheit einzufangen, einen Ziegenbock... Charles, unser »MascotMajor«, der sich vornehmlich von Cornflakes und Tee ernährte... Nachdem sie mein Asylgesuch anerkannt hatten - es war gar nicht so leicht damals, denn als Redakteur einer Arbeiterzeitung billigten sie mir nicht den notwendigen Grad von Gefährdung zu - von der Sammelstelle also machte ich mich auf zu Charles Sullivan... Wißt ihr, mit welchen Worten er mich begrüßte? Jeder ist willkommen in meinem Haus — vorausgesetzt, daß er es übernimmt, einmal in der Woche meine Tiere zu füttern... Was er hatte? Also ganz sicher lebten mit ihm in seinen anderthalb Zimmern Katzen, Zierfische, Vögel und ein junger Kaiman, der am liebsten Bleistifte fraß... Schaut euch die Haarfülle an, und Mr. Charles Sullivan ist über siebzig... Sein Sohn übrigens, ein Waffeningenieur, erfand für die Royal Navy eine Spezialmine; Charles setzte ihm so lange zu, bis er seine Erfindung »vergaß«... Was mich an ihm störte, was insbesondere Ida an ihm störte, Ida Ehrlichmann, die an Wochenenden stundenlang beherrscht weinte - so ein ruhiges, trockenes Weinen, das darauf schließen ließ, daß sie ein distanziertes Verhältnis zu ihrem Schmerz hatte: seine Förmlichkeit... seine mechanische Anteilnahme und Förmlichkeit.., Wenn du Charles mit der unvermeidlichen Erregung anvertraut hättest: ich habe leider meinen Bruder erschlagen müssen - er hätte gewiß nicht mehr gesagt als: Oh, I see... Als Ida einmal, erstaunlich genug, an einem Wochenende weinte - es war, als die Verbindung mit ihrer Mutter in Breslau abriß - glaubte Charles nach ihr sehen zu müssen, es lag ihm nicht daran den Grund ihres Leids zu erfahren, er wollte lediglich seine Anteilnahme ausdrücken, und so sagte er: Sorry... Machst du mir auch ein Glas, Eugen? Mit zwei Stückchen Eis, bitte; der Bildwerfer läuft ganz schön heiß... Also alles in allem wohnte ich hier dreieinhalb Jahre... In einem Archiv, Thea; nach einigen Kurierdiensten gaben sie mir Arbeit in einem Zeitschriften-Archiv: ich hatte internationale Berichte über Flüchtlingsprobleme auszuwerten... Übrigens, ihr könnt euch

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