Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen

Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen

Titel: Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Lenz
Vom Netzwerk:
den gleichen Produkten zu leben, die gleiche Zunftsprache zu sprechen... Die Ärzte, die die höchsten Rechnungen schreiben, zieht es wie selbstverständlich in die Harley Street; wer einen Luxusladen eröffnen will, denkt zunächst an die Bond Street; ein Zeitungsmann hält sich an die Fleet, und wer mit einer Botschaft zu tun hat, der ist über kurz oder lang auf Belgravia angewiesen... Ich weiß nicht, Thea, woran das liegt; vielleicht geheime Merkmale, Erkennungszeichen oder Hoffnungen; vielleicht aber auch das übereinstimmende Gefühl, Treibgut zu sein, Zeuge für die Gleichgültigkeit der Geschichte... Auch die Not hat ihre Anziehungskraft, ihr Aroma...
      Wie ich das meine? In dem Haus, in dem Ida Ehrlichmann heute wohnt, leben außer ihr noch sieben Emigranten: gleiches Los drängt auf gleiche Adresse - so als müßte man sich mit Hilfe des Nachbarn der eigenen Wirklichkeit versichern, der gleichen Narben und Untröstlichkeiten... Man versteht einander ohne Bedingungen. Und natürlich verstand jeder im Haus Ida Ehrlichmann, die eines Tages - man stelle sich vor: eine alte Frau von gesammelter Freundlichkeit - auf den Konsulatsbeamten schoß, der ihren Wiedergutmachungsantrag bearbeitete... Ein junger Mann, der sich unbeteiligt in ihr Leben hineinfragte, der natürlich keine Rücksicht nehmen konnte auf die Einzigartigkeit des Erlittenen... Aus ihrem Stofftäschchen holte sie ruhig einen Revolver hervor und schoß, ohne Schaden anzurichten... Cynthia erzählte, daß der Beamte sie an einen Mann erinnerte, den sie mehrmals im »Cheshire Cheese« getroffen hatte... Wie gesagt, sie hat sich ihrer angenommen... Aber warum denn so überstürzt, Thea? Seid doch nicht so überempfindlich, ich versteh dich nicht - wo soll hier eine Anklagebank stehen?... Es tut mir leid, wenn es dir so vorkommt, doch hier macht niemand den Versuch, irgend jemandem ein schlechtes Gewissen beizubringen... Entscheide du, Eugen: wir stellen das Ding jetzt ab und nehmen gemütlich einen zur Brust... Mein Gott: dir muß es doch ähnlich gehen: Bilder aus der Eisenzeit, unwirklich, kaum noch zu glauben... Da kann man nichts machen, wenn du dich erschöpft fühlst; dennoch, wir bedauern sehr, daß ihr so plötzlich aufbrechen wollt... Wie meinst du das, Eugen?
      Natürlich hat jeder seine eigenen Erinnerungen... Vielleicht Gegenerinnerungen, wie du sagst... Also ihr wollt nicht einmal austrinken? Schade... Nein, Eva, ich geh schon mit zur Tür... Nichts vergessen, Thea? Den Schal vielleicht, wie am letzten Sonntag? Wieso denn; ich glaube, wir haben ebensoviel zu bedauern.
      Was sehe ich, Eva: du verschaffst dir wohl deine eigene Vorstellung... Wenn mich nicht alles täuscht, unser alter Pub in der Fleet Street, »Ye Olde Cheshire Cheese«... Ich gebe zu, ich hatte es vorhin bewußt ausgelassen und zur Seite gelegt... Schau dir die geschmiedete Laterne an und das alte Ornament über der schmalen Tür: dort ist ihr passiert, was sie bis heute nicht verwunden hat; dort sind Ida Ehrlichmann die Listen ihrer »Kunden« abhanden gekommen... Weiß ich, was ihr überstürzter Aufbruch bedeutete?... Thea fühlte sich noch mehr herausgefordert als Eugen... Vielleicht wirst du es jetzt einsehn: solange unseresgleichen lebt, muß man darauf gefaßt sein, daß die gemeinsame Besichtigung von Vergangenheit schon ausreicht, um verfrüht aufzubrechen... Verfrüht und argwöhnisch... Frag mich nicht danach, Eva: ich traue ihm nichts zu und alles... Tu ruhig drei Stückchen Eis ins Glas... Was ich nun vorhabe, kann ich dir genau sagen: nicht weil er mein Chef ist, sondern weil er heute unser Gast war, werde ich in etwa vierzig Minuten bei ihm anrufen und ihn fragen, ob er sicher nach Hause gekommen ist. Morgen haben wir einen ziemlich schweren Tag.

    1973

Die Wellen des Balaton

    Auch das Bad im Balaton erfrischt ihn nicht. Er krümmt den Körper, taucht bis zum Hals hinab, schließt die Augen vor dem Glitzern der bewegten Einöde. Der See ist zu flach, Judith, sagt er, das Wasser erwärmt sich zu schnell. Die kleine Frau mit den Sommersprossen stößt sich vom sandigen Grund ab, schnellt bis zur Hüfte empor, wieder und wieder, und schmettert ihre Handteller auf das Wasser, sodaß die Spritzer flach zu ihm hinspringen. Es sind wieder zwei Busse angekommen, sagt sie, vielleicht sind sie es - siehst du, Berti? Der Mann richtet sich auf, blickt zu dem neuen, weißgrauen Hotel zwischen den alten Bäumen hinüber und entscheidet: Keine deutschen, Judith,

Weitere Kostenlose Bücher