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Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen

Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen

Titel: Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Lenz
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gelangt sind... Das kann ich dir sagen, Eugen: sie trug diese Listen deshalb mit sich herum, weil es im Haus von Charles Sullivan keine Schlüssel zu den Zimmern gab... Du hast deine Zweifel, Thea? Gut, dann will ich dir sagen, daß auch ich eines Tages eine anonyme Warnung erhielt; man riet mir, meine »feindliche Tätigkeit« im Archiv aufzugeben... Aber warum wollt ihr denn nichts mehr trinken?... Eva, nötige doch mal ein bißchen...
      Und hier seht ihr einen Straßenmaler, am Victoria Embankment... Der Mann fiel mir deshalb auf, weil er - ihr könnt es erkennen - nur Straßenmaler malte, die ihrerseits auch wieder Straßenmaler malten... Schaut euch die Beine der Zuschauer an, die Mädchenbeine, die Männerbeine, schaut nur genauer: es ist jeweils nur ein eigentümliches Bein, also müssen die Zuschauer einbeinig sein.
      Eine historische Aufnahme, ja, dies ist ein Bild von historischem Wert, denn inzwischen wurde die »Windmill« abgerissen, einer der berühmtesten Unterhaltungsschuppen - Show-Programme waren die Spezialität der »Windmill«; und ihr Wahlspruch, der durch Kühnheit oder Wurstigkeit oder ganz einfach durch englischen Trotz legitimiert war, lautete: »Nie geschlossen«... In deinem Aufsatz, Eugen, - er hieß wohl: »Was ist englisch an den Engländern?« - hast du damals diesen glorreichen Trotz vergessen, der zu Unerwartetem befähigt. Ich wollte sagen: die «Windmill« hat ihren Wahlspruch während des Krieges erworben: nicht einmal der wütendste Bombenangriff beeindruckte die Direktion so sehr, daß sie sich zum Abbruch des Programms entschlossen hätte. Hier wäre die Schau weitergegangen, selbst wenn es Brandbomben geregnet hätte, und was ich über die Direktion gehört habe: die hätte es fertiggebracht, den Gästen zum Abschied noch warme Bombensplitter als Souvenir zu überreichen... Nein, Thea, nicht sehr oft, vielleicht ein halbes Dutzend Mal... Wann ich zuletzt dort war? Das kann ich sogar genau sagen: im Herbst sechsundvierzig, einen Tag, bevor mich die letzte Fähre von Harwich auf den Kontinent brachte... mit Cynthia, ja, mit meiner ersten Frau... Wir hatten gepackt, Abschiedsbesuche gemacht, zwei Plätze reserviert, alles war beschlossen und geordnet und abgesichert, und am letzten Abend, der uns auf der Insel geblieben war, gingen wir in die »Windmill«... Wie immer, viele Soldaten, gute Musik, eine sehr freigebige und witzige Show... Cynthia hatte offenbar nur einen Gedanken: sie fragte wohl schon zum fünften Mal, woran es liegen könnte, daß er überhaupt nicht älter werde; sie meinte einen sehr ernsten Zeitungsverkäufer, den wir schon seit Jahren kannten... Wie bitter Nein, Eva, das ist wohl zu privat... Ach, nur den Abschied meinst du?... Da habe ich auch nur Vermutungen - manchmal glaube ich sogar, daß alles anders verlaufen wäre, wenn wir nicht versucht hätten, den letzten Abend in der »Windmill« zu verbringen... Cynthia stand auf einmal auf und nickte mir zu, während der Vorstellung, in dem Augenblick, als eine neue Nummer angekündigt wurde, die »Katzenwäsche« hieß. Natürlich nahm ich an, daß sie gleich wieder zurückkehren werde, doch die »Katzenwäsche« und zwei andere Nummern gingen vorüber, und ihr Platz blieb leer... Sie saß zuhause, auf dem Fensterbrett, rauchte, machte eine Geste gegen das Gepäck hin, gegen mein Gepäck... Sie hatte ihre Koffer bereits wieder ausgepackt... Mag sein, Thea, vielleicht auch Furcht oder Vorurteile, oder weil sie die Entdeckung gemacht hatte, nicht vergessen zu können; sie selbst erklärte es nicht und konnte es auch später nicht erklären. Sie war nur davon überzeugt, dem Leben hier nicht gewachsen zu sein... Nein, sie machte zumindest keinen entschiedenen Versuch; sie sah ein, daß ich zurückkehren mußte, und am nächsten Tag bestand sie sogar darauf, mich zum Zug zu bringen. In diesem Augenblick wußten wir beide, daß mehr beschlossen war als nur meine Abreise.
    Wollt ihr noch mehr Bilder sehen?... Wir sind auch gleich
    am Ende, Thea... Wenn du mich so fragst: die Lehre, die England jedem erteilt, besteht darin, daß nichts so dauerhaft, so langweilig und bekömmlich ist wie eine Ehe zwischen Vernunft und Erfahrung... Was ist denn das? Eine Marktszene, ja, der berühmte Straßenmarkt in der Portobello Road... Weißt du, Eva, warum wir den aufgenommen haben? Jedenfalls, Eugen kann euch bestätigen, wie sehr man in dieser Stadt darauf hält, unter Gleichen zu sein: gleichen Neigungen nachzugehen, von

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