Einsteins Gehirn: Kriminalroman (German Edition)
durchgeknallt? Gab es keine Friedhöfe? Keine
Ärzte, die Totenscheine ausstellten? Keine Hebammen, die sich um Schwangere kümmerten?
Keine Jugendämter?
Modriger
Geruch stieg auf und die Erde gab Wolken ihrer jahrtausendealten Gleichgültigkeit
und Negativität in den eisgrauen Nachthimmel ab …
Was ging
schief in diesem seltsamen Universum? Was hatte ein gütiger Gott sich dabei gedacht?
Oder ließ ihn das alles kalt? Hatte er vielleicht anderes zu tun, als sich um die
Herzlosigkeit seiner Geschöpfe zu kümmern? Bastelte er gerade an einem neuen Urknall?
Als ich
ins Haus zurückgekehrt war und wieder im Bett lag, drehte ich mich fröstelnd zur
Wand. Die aufgehende Sonne wanderte langsam über die Fensterbank.
Das grüne
Leuchtzifferblatt meiner Uhr zeigte Viertel nach sechs.
Am nächsten Tag begegnete ich in
der Fußgängerzone dem Mädchen, mit dem ich die Levitation gehabt hatte. Ich meine,
sie schlenderte einfach diese verdammte Straße entlang, als habe der Schöpfer höchstpersönlich
in das komplizierte Räderwerk der Welt eingegriffen und an ein paar Hebeln gezogen.
Und Gott
sei mein Zeuge, sie war noch hübscher, als in meiner Erinnerung. Es verschlug mir
glatt die Sprache. Mir wurde wieder schwindelig …
»Hallo«,
sagte sie und streckte ihre Hand aus, die genau so fest war wie ihre zierlichen
kleinen Brüste. »Sind Sie nicht Albert Pottkämper, der Andersgläubige?«
Sie wusste
tatsächlich noch meinen Namen. Das gab mir zu denken.
»Albert
Pottkämper … eh, ja.«
»Sie waren
damals ohnmächtig geworden.«
»Ohnmächtig?
Ich erinnere mich nicht.«
»Ich musste
Sie auffangen.«
»Tatsächlich?
Dann sollte ich mich wohl bei Ihnen entschuldigen?«
»Nein, es
…«
»Ja?«
»Es war
… nicht unangenehm.«
»Es war
nicht … verstehe … kann ich Sie vielleicht … ich meine … zu einem Eis einladen?«
Es ist fürchterlich,
wie viele Verrenkungen die Natur braucht, um einen so einfachen Satz herauszubringen.
Und das auch noch gegen meinen Willen. Denn nicht ich war es, der so dämlich stammelte,
sondern eine andere mächtige Kraft in mir, der ich hilflos ausgeliefert war.
»Zum Eis,
ja gern«, sagte sie, als sei es die einfachste Antwort von der Welt.
»Oh … ja
dann …« Ich hakte mich bei ihr ein. »Will mir nämlich gerade einen Schoko-Krokant-Sahne-Becher
mit Erdbeer- und Vanilleeis einverleiben.«
»Macht das
nicht dick?«
»Wir werden
uns schon noch wiedererkennen«, sagte ich. »Aber Sie sollten mir vorsorglich Ihren
Namen verraten.«
»Vorsorglich?«
»Falls wir
platzen …«
Ihr Lachen
war einfach umwerfend. Es war, als erklängen tausend Glocken in meinem Kopf – und
ihr Nachhall wollte gar nicht mehr aufhören. Einen Augenblick lang fühlte ich mich
wie im Siebten Himmel.
»Charlotte
Tausendmark.«
»Schöner
Name, passt zu Ihnen.«
»Im Ernst?«
Das Café
war eines von der Sorte, die noch Eis nach alten Rezepten herstellten.
Wir setzten
uns in ein schattiges Eckchen und verputzten zwei Riesenbecher »El Moreneo«. Es
war nicht mal Alkohol darin, ich meine, Amaretto oder dergleichen. Aber sobald Charlotte
den langen Eislöffel in der Sahne versenkte und ihn dann unerträglich langsam –
auf hypnotische Weise langsam – in Richtung ihrer irgendwie überirdisch wirkenden
Lippen führte, wurde mir wieder schwarz vor Augen.
Den Rest,
wie er in ihrem Mund landete, bekam ich schon gar nicht mehr mit.
»Ich hadere
immer mit unserem Familiennamen«, sagte ich, weil die Stille langsam unerträglich
wurde. »Jeder spricht ihn so aus, als würden wir in einem Topf Camping machen.«
»Ach? Auf
die Idee wäre ich nie gekommen.«
»Hängt von
der Betonung ab.«
»Wie leben
Sie, Albert? Ich meine, was machen Sie und Ihre Eltern? Haben Sie Geschwister?«
»Eine Schwester.
Meine Eltern sind ziemlich wohlhabend – und sozusagen im Ruhestand. Dann ist da
noch meine 92-jährige Großmutter …«
– die
treibt’s mit einem Apotheker im Ruhestand , wäre mir fast herausgerutscht.
»Also beinahe
schon eine Großfamilie? Und alle vertragen sich?«
»Mehr oder
weniger. Mal abgesehen davon, dass mein Alter mir dauernd pädagogische Briefe schickt.«
»Weil Sie
noch viel zu lernen haben?«
»Nein, weil
er sich für Wilhelm von Humboldt den Zweiten hält.«
»Sind Ihre
Eltern … gläubig ?«
Das war
vermutlich eine Fangfrage, um herauszufinden, ob ich überhaupt für sie in Frage
kam. Den Zeugen Jehovas ist es zwar theoretisch erlaubt, Andersgläubige zu
Weitere Kostenlose Bücher