Einsteins Gehirn: Kriminalroman (German Edition)
Gene haben könnten, so eloquent, wie er einem seine Vorstellungen schmackhaft
zu machen wusste.
»Mom gibt
gerade eine Vermisstenanzeige auf«, sagte ich. »Das Verschwinden deiner Tochter
scheint ihr ziemlich an die Nieren zu gehen. Wir dürfen keine Zeit verlieren.«
»Umso wichtiger,
dass du uns nicht auch noch verloren gehst.«
»Warum sollte
ich?«
»Deine Mutter
hatte schon tot geborene Zwillinge, bevor du zur Welt kamst. Deshalb haben wir deine
Geburt nicht als gutes Omen angesehen.«
»Im Ernst?
Davon höre ich heute zum ersten Mal. Wo sind meine armen kleinen Brüder denn begraben?«
»Irgendwo
da hinten an den alten Eichen«, sagte er und zeigte unbestimmt auf das Wäldchen
hinter den Wiesen und dem See, über dem die komische Geisterbruchbude seiner Stiefschwestern
zu sehen war. Er sprach das Wort Eiche genau so seltsam aus wie AEG – Äche .
Mein Alter mit seinem Sprachfehler! Er sagte auch Äffellturm statt Eiffelturm.
»Ihr habt
sie auf dem Grundstück beerdigt? Ist das nicht illegal?«
»Was ist
heutzutage nicht illegal?«
Dass ich
Brüder hatte, die irgendwo auf unserem Grundstück verscharrt lagen, verschlug mir
glatt die Sprache. Ich meine, es waren schließlich Menschen von unserem eigenen
Fleisch und Blut. Irgendeine Windpockeninfektion, Masern oder schiefe Zähne und
ich wäre dort draußen ebenfalls als namenloses Etwas vergraben worden.
»Kannst
du mir mal den Schlüssel für meine Bibliothek geben?«, fragte ich, bevor er sich
wieder verdrückte. »Ich würde gern mein neues Buch über Quantenphysik mitnehmen.«
»Quantenphysik,
wozu …?« Er sah mich auf merkwürdige Weise an – fragend und erstaunt und irgendwie
erfreut, als habe er schon viel zu lange auf eine Antwort wie diese gewartet.
»Um herauszufinden,
wieso Elementarteilchen unabhängig von der Entfernung augenblicklich miteinander
korrespondieren. Das nennt man Quantenverschränkung oder ›Einsteins spukhafte Fernwirkung‹.«
»Glaubst
du denn, dass dir bei der Suche nach deiner Schwester noch Zeit für wissenschaftliche
Studien bleibt?«
»Ich arbeite
ständig und überall, auch wenn’s manchmal nicht danach aussieht. So was nennt man
geistige Arbeit, falls dir das was sagt.«
»Auch in
der Straßenbahn oder auf der Rolltreppe?«
»Wer nicht
mehr denkt, ist tot.«
»Zu viel
Denken hat uns die Atombombe und biologische Kampfstoffe eingebracht. Außerdem den
Ost-West-Konflikt und den Dadaismus.«
Ich gab
vorsichtshalber keine Antwort, weil unsere weltanschaulichen Debatten stets im Desaster
endeten. Der Unterschied zwischen richtigem und falschem Denken war ihm noch nicht
aufgegangen.
»Oder nehmen
wir mal den Glauben der Islamisten«, fuhr mein Alter fort. »Danach kommt man als
Selbstmordattentäter ins Paradies und sitzt zur Belohnung im Kreise des Propheten
und seiner Jungfrauen.«
Ich hielt
die Hand vor den Mund und gähnte. (Mein gelangweiltes Gesicht hätte jeden zufällig
an unserem Haus vorüberfliegenden Kampfjet zum Absturz gebracht.)
»Hallo,
ist da jemand?«, fragte er. »Ist mein Sohn Albert Einstein zu Hause?«
Ich schüttelte
den Kopf und nahm ihm einfach den Schlüssel aus der Hand, den er provokativ grinsend
vor meiner Nase baumeln ließ.
Noch vor Tagesanbruch stand ich
auf, besorgte mir in der Garage einen starken Handscheinwerfer und latschte an unserem
Whirlpool vorüber hinaus in den Wald.
Mein Halogenscheinwerfer
hatte ungefähr eine Lichtleistung von 3,946 × 10 26 Watt – das ist heller
als die Sonne. Und weil er wie eine Flutlichtanlage in den Nachthimmel strahlte,
bekam ich höllische Angst, dass man ihn vom Haus aus entdecken könnte. Also versuchte
ich den Lichtkegel mit einem Schal abzuschirmen, den ich mir wegen der Kälte umgebunden
hatte.
Das Gras
war hoch und feucht und diese verfluchten nachtaktiven Vögel machten ein Spektakel
wie in einem Gruselfilm. Überhaupt kam es mir so vor, als seien alle Sträucher und
Bäume in dem verdammten Wald Hexen und Gnome.
Da standen
sie … zwei kleine Holzkreuze … unbeschriftet und schon ganz morsch … ich traute
meinen Augen nicht. Da lagen tatsächlich meine zwei namenlosen kleinen Brüder!
Ich fröstelte
in meinem gestreiften Schlafanzug. Ich stand unter der großen alten Eiche und zitterte.
Nur irgendein wohlmeinendes Schicksal hatte mich davor bewahrt, nicht auch hier
zu liegen.
Was, in
Herrgotts Namen, ging in den Köpfen dieser skrupellosen und unbarmherzigen Seelen
vor? War denn die ganze Menschheit
Weitere Kostenlose Bücher