Einundzwanzigster Juli
und Pattke.
Je stiller es um mich ist, desto lauter toben sie in meinem Kopf. Ich fühle das Stroh des Viehwaggons durch meine Kleider stechen und zupfe daran, obwohl ich weiß, dass ich nichts finden werde; nachts springe ich aus dem Bett und reiße das Laken von der Matratze, während Mutter sich beschwörend neben mir aufrichtet.
»Es ist nichts da, Fritzi. Es ist viel zu kalt für Wanzen!«
Dr. Goerdeler hat sie beruhigt. Mein Verhalten sei vollkommen normal. Eine ganz natürliche Schockreaktion nach allem, was wir hinter uns haben, und es sei ja auch erst der dritte Tag.
»Aber das hier«, schimpft Julius, reißt mir die Strickmütze vom Kopf und stopft meine halb erfrorene Hand so grob hinein, dass ich fast aufschreie, »ist nicht mehr normal! Das kann mir keiner erzählen!«
Noch nie habe ich ihn so wütend gesehen. Wie ein Wilder kam er am Ufer entlanggesprintet, riss mich vom Wasser weg, aus dem mich meine schwebende weiße Hand wie ein toter Fisch angestarrt hatte, und es fehlte nicht viel und er hätte mich geohrfeigt.
»Fritzi! « Jetzt verlegt er sich aufs Bitten. »Warum machst du so etwas? Wir sind frei! Ein paar Tage noch und wir können nach Hause!«
»Und wo soll das sein?«, schreie ich ihn an. »Aua! «, heule ich und krümme mich über meine linke Hand, die jäh aus der Betäubung erwacht und ein schrilles Signal von Schock und Schmerz aussendet. Eine Minute im Eiswasser, länger kann es nicht gewesen sein – oder? Der Schmerz bringt mich zur Besinnung, ängstlich starre ich auf meine rot anschwellenden, pochenden Finger, die sich anfühlen, als müssten sie jeden Augenblick explodieren. Daran wenigstens habe ich gedacht: dass ich die rechte Hand noch brauchen könnte.
»Lautlitz«, sagt Julius. »Tante Almut sagt, ihr geht erst einmal nach Lautlitz. «
»Nachsehen, wer noch da ist?«, stoße ich hervor. »Danke, ohne mich.«
»Aber das müssen wir alle«, entgegnet Julius bedrückt. »Was mich betrifft, ich will es so bald wie möglich wissen. Und du doch auch.«
Er sieht sich meine Hand noch einmal an, scheint zufrieden, wickelt sie wieder in die Mütze. »Es geht dir gar nicht um Lautlitz oder um die, die noch da sind, hab ich Recht?«, sagt er mir ins Gesicht. »Es geht um die, die nicht mehr kommen. Um Tante Lexi.«
»Lass mich einfach in Ruhe!«, flüstere ich.
»Mein Opa«, erwidert er und holt tief Luft, »mein Opa und Walcheren ...«
Berge, Himmel, Wolken verschwimmen vor meinen Augen. »Es bleibt trotzdem unser Zuhause«, höre ich Julius sagen. »Wir müssen es wieder dazu machen.«
Als ich wieder sprechen kann, antworte ich: »Ich kann mich an deinen Opa kaum erinnern. Ich habe ihn vielleicht drei Mal gesehen. Onkel Georg und Onkel Eckhardt hätte ich auch gern besser gekannt.«
»Und ich Lexi! Weißt du, dass ich ein wenig enttäuscht war, als ich sie zum ersten Mal sah? Ich hatte gehört, Max heiratet eine Kampfpilotin!«
Ich muss lachen. »Sie sah einfach nicht so aus«, meint Julius. »Freundlich und still. Sie hat Zeichnungen von den Kindern gemacht, das weiß ich noch. Alles andere hat man nicht geahnt. Wie stark sie war. Dass sie einmal so um uns kämpfen würde.«
»Julius«, frage ich leise, »kannst du Geheimnisse für dich behalten ?«
Er zieht die Brauen hoch. »Kommt ganz darauf an!«, erwidert er im vertrauten leichten Ton; er ahnt ja nicht, was ich ihm, und nur ihm, erzählen werde.
Auf dem Dach des Hotels stehen zwei Posten mit Sturmgewehr, die das Gelände ringsum im Blick behalten. Ich sehe, wie sie sich die Fäuste reiben und von einem Bein aufs andere treten; in der Nachthat es wieder geschneit, obwohl es mir vorkommt, als müsste es viel zu kalt dafür sein. Abseits des Weges zu einer kleinen Kapelle am Seeufer, den die Männer am Morgen freigeschaufelt haben, versinkt man bis zu den Knien im Schnee.
Die Soldaten bilden eine wachsame Kette um das Hotel: Jemand hat am Vortag Gestalten in der Nähe des Sees umherhuschen sehen. Niederdorf, wo General Garibaldi und die vier anderen italienischen Offiziere zurückgeblieben sind, ist seit unserem Abtransport von Partisanen besetzt. Garibaldisten nennen wir sie und sie hätten, wie Mr Best meint, sicher ebenfalls nichts gegen ein paar prominente Geiseln als Faustpfand einzuwenden. Wir sind dringend angehalten, uns nicht aus Sichtweite der Wachen zu entfernen. Auch SS könnte sich noch in den Wäldern herumtreiben.
»Was hast du da am See gemacht?«, werde ich von einem dicken Feldwebel gefragt.
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