Einundzwanzigster Juli
»Wolltest du deine Hand loswerden?«
»Meine Kusine konnte die Schönheit der Landschaft nicht mehr sehen«, erklärt Julius zu meiner Überraschung in völlig selbstverständlichem Ton.
Der Feldwebel guckt ihn an, als habe er Latein gesprochen. »Ich war in Sizilien und am Montecassino«, sagt er strafend. »Ich bin froh, dass ich meine Hände noch habe.«
Beschämt senke ich den Kopf. Ein weiterer Soldat kommt hinzu und sieht sich die Hand an. »Sieh zu, dass du einen Verband bekommst!«, befiehlt er. »Spätestens morgen gibt’s Brandblasen.«
Im Hotelfoyer wird wirklich Latein geredet: die gemeinsame Sprache von Bischof Piguet und Domkapitular Neuhäusler. Sie sind so vertieft in ihr Gespräch, dass sie uns mit »Salve, pueri« grüßen. Julius streicht unsere Namen aus der Ausgehliste. Jeder, der ins Freie will, trägt sich darauf ein und notiert, wann er zurückzukommen gedenkt. Sicher ist sicher.
»Soll ich mitgehen zu Dr. Goerdeler?«, fragt Julius.
»Nein, den finde ich schon allein.«
»Sehen wir uns denn nachher beim Küchendienst?«
Unschlüssig stehen wir einander gegenüber, verbunden durch Geheimnis und Verantwortung. »Ich bin ab zwei Uhr eingeteilt.« »Fein, ich auch. Na dann ...«
Als hingen unsichtbare Fesseln zwischen uns, fällt es jetzt schon schwer, uns zu verabschieden. Ich glaube, ich habe meinen Vetter Julius und mich für immer aneinandergekettet.
»Glaubst du, sie hat es Max noch sagen können?«, hat er als Erstes gefragt, nachdem er lange und schweigend zugehört hatte.
»Bestimmt nicht. Sie haben sich nur noch wenige Male gesehen, und soweit ich weiß, immer unter Bewachung.«
»Dann darf Max es nicht erfahren! Es ist schlimm genug für ihn, dass Georg und Eckhardt die Sache ohne ihn geplant und durchgezogen haben, und wenn jetzt auch noch Lexi ...«
»Das denke ich auch. Ich musste es nur ... jemandem erzählen.« »Das war gut! Einige sollten davon wissen, falls es einmal wichtig wird.«
Vom Hotel her sucht das Geräusch des Holzhackens sein Echo in den Bergen und hallt über den See zurück. »... wichtig wird?«, fragte ich.
»Lexi gehörte zur deutschen Luftwaffe. Sie wurde auf persönlichen Befehl Görings aus der Haft geholt. Sie wird als eine von ihnen gelten«, antwortete Julius schlicht.
»Na schön. Dann ... dann sagen wir eben, wie es wirklich war.« »Lexis Ehre gegen Frieden für Max?«
Betroffen sahen wir uns an. »Das würde sie nicht wollen. Nie!« »Lass uns entscheiden, wenn es jemals wichtig wird«, wiederholte Julius.
Ich bin froh, dass ich nicht mehr allein entscheiden muss.
»Das hättest du gar nicht tun müssen«, meint Dr. Goerdeler, während er einen lockeren Verband um meine von Salbe glänzende Hand wickelt. »Ich hätte dir einen Verband anlegen können, auch ohne dass du dir Schaden zufügst. Hättest es nur sagen brauchen.«
Meine Ohren glühen. Dann merke ich, dass er es ernst meint.
»Wir sind alle versehrt, Fritzi. Sieh dir an, mit welcher Gier wir das Essen verschlingen, wie jeder danach schielt, ob der andere ein Zipfelchen Wurst mehr bekommt. Wie in den persönlichen Weinkeller der Hotelbesitzerin eingebrochen wird, obwohl sie gibt, was sie hat! Du bist nicht die Einzige, die der Freiheit noch nicht traut. Sieh nur genau hin.«
»Kann ich ... kann ich mit dem Verband in der Küche helfen?«
»Nein, mein Kind, das kannst du jetzt nicht mehr, und die Wäscherei ist auch tabu. Aber warum hilfst du nicht deiner Mutter in der Kleiderstube?«
In der Tür drehe ich mich noch einmal um. Dr. Goerdeler hat aus Beständen, die er von der Wehrmacht erbettelt hat, eine kleine Apotheke organisiert und ich sehe ihn Salbe und Verbandsmaterial sorgfältig in eine beschriftete Kiste zurücklegen und ins Regal stellen. Seine alten, von blauen Adern durchzogenen Hände zittern wie immer ein wenig.
»Ich habe mich noch nicht bedankt«, höre ich mich sagen. »Dafür, dass Sie da waren. Wenn wir Sie nicht gehabt hätten, wären die meisten von uns gar nicht hier angekommen.«
Dr. Goerdeler ist auf einmal sehr damit beschäftigt, weitere Kisten aus dem Regal zu nehmen und deren Inhalt zu inspizieren. »Wenn ich euch nicht gehabt hätte, wäre ich auch nicht mehr da«, brummt er endlich und wirkt froh, als ich die Tür hinter mir schließe.
Im Foyer sehe ich Mr Best, den Vorsitzenden des Komitees, das gegründet worden ist, um sich um unsere Belange zu kümmern. Gemeinsam mit der Komiteesekretärin, Frau Gudzent, hängt er die Tagesordnung
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