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Einundzwanzigster Juli

Titel: Einundzwanzigster Juli Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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versuchen. Zu Füßen der beiden Frauen sitze ich ergeben auf dem Boden und passe auf, dass mich ihre Knie nicht treffen, wenn sie bei jedem Krachen erschrocken in die Höhe schnellen. Zum Zeitvertreib kann man an der Art ihres Zusammenzuckens abzulesen versuchen, welche von ihnen es als Erste nicht mehr aushält und zu mir unter den Tisch kriecht.
    Nachts kommt der Alarm oft zwischen zehn und elf und trifft Mutter und mich wohlvorbereitet, nämlich mit gepackten Koffern und vollständig angezogen auf ihrem Bett. Nur Sekunden nach Beginn des Voralarms geht die Wohnungstür und Olesia huscht mäuseschnell hinaus, etwas später hört man die gedämpften Schritte und Stimmen der Nachbarn. Im Rhythmus von Tag und Nacht schläft niemand mehr; man lebt zwischen Tagangriff und Nachtangriff und entscheidet sich in den unvorhersehbaren Pausen entweder fürs Schlafen oder fürs Einkaufen.
    »Wir können Ihnen nicht schon wieder etwas abgeben, Frau Koch«, schimpft Frau Becker. »Wir anderen würden auch lieber schlafen als um Lebensmittel anstehen, glauben Sie mir!«
    »Es ist einfach über mich gekommen!«, weint Frau Koch. »Bitte geben Sie Jörg-Alfred ein Stück Brot, er kann doch nichts dafür!«
    »Ich hab ihm gestern schon gegeben«, erklärt Frau Becker und wendet sich ab, und Mutter wird sich jetzt auf die Lippen beißen, aber es hilft nichts, wir haben selbst nichts mehr. Mutter hat den ganzen bombenfreien Vormittag an einem Kleid für Emmy Göring geschneidert, dessen Stoff von einem Chauffeur gebracht wurde.Mich wollte sie aus Furcht vor Angriffen oder plötzlich einstürzenden Ruinen am Wegesrand nicht einkaufen schicken und Olesia darf ohne Begleitung gar nicht auf die Straße.
    »Siehst du jetzt, warum du nicht bleiben kannst?«
    Mutter ist aufgewühlt. Längst hätte sie mich für Lebensmittel- und Kleidermarken anmelden sollen, aber schiebt es vor sich her aus Sorge, die Hitlerjugend stünde sofort vor der Tür und nähme mich zu irgendwelchen gefährlichen Diensten mit. Nach Lautlitz soll ich! Der einzige Grund, weshalb ich noch hier bin, ist ihre noch größere Angst, dass der Zug, mit dem sie mich zu den Verwandten schicken will, unterwegs von Tieffliegern beschossen wird.
    Am Ende ist es die Bechtolf, die wortlos aufsteht und nicht nur Jörg-Alfred, sondern auch seiner Mutter etwas zu essen zusteckt.
    Die Einschläge sind jetzt weiter entfernt. Ich strecke probehalber den Kopf unter dem Tisch hervor und krabble, da Mutter nicht protestiert, auf allen vieren zurück zum Bett. Das Klo wäre mir jetzt lieber! Ich hoffe, ich muss nicht mehr allzu lange warten.
    Zwei Nächte und einen Tag hat Oma Luchterhand allein in ihrer Wohnung sitzen müssen, bis endlich ein Bestatter kam – ein Bestatter, der keine Fragen nach Papieren stellte und sich das gut bezahlen ließ. Auch an Juden, die im Versteck gestorben sind, verdient er sich eine goldene Nase, denn deren Helfer müssen die Leichen um jeden Preis loswerden. Das hat Mutter mir verraten, ohne dass ich auch nur gefragt hätte. Bin ich ihre Komplizin geworden allein dadurch, dass ich über sie Bescheid weiß?
    Das gesamte Haus, selbst die Bechtolf, wollte zur Beerdigung, doch wir kamen nicht mal bis zur Tram. Ein Fehlalarm diesmal, der eine halbe Stunde später wieder aufgehoben wurde und unter den Frauen einen Zornesausbruch auslöste, als wäre ihnen ein Angriff lieber gewesen.
    »Da müssen sie uns in den paar Stunden, wo der Feind uns in Ruhe lässt, auch noch in den Keller hetzen!«, schrie Frau Wahl. »Unter Strafe stellen sollte man das! «
    Ausnahmsweise widersprach die Bechtolf nicht. Doch um zur Beerdigung zu fahren, war es zu spät. »Immerhin wird sie beerdigt«, murmelte Mutter. »So viele werden nicht einmal gefunden.«
    Was wohl mit Oma Luchterhands Marken und Ausweisen passiert ist? Einen Tag lagen sie noch im Wohnzimmerschrank, dann waren sie auf einmal verschwunden, genau wie das verdächtige Päckchen mit den Schuhen. Es könnte der Postbote gewesen sein, der ganz kurz in der Wohnung war, oder Mutter hat die Papiere beim Bäcker zwischen die Geldscheine gesteckt. Sie ist geschickter, als ich dachte. Ich habe nicht das Geringste bemerkt, obwohl ich höllisch aufgepasst habe.
    Nun sind wir also nur noch neun im Haus – neun von vierundzwanzig, die hier gewohnt haben, als ich fortging. »In jeder Gruppe«, teilte uns Ellen gleich bei der Ankunft mit, »kann man mit ein wenig Erfahrung sofort erkennen, welche von euch es schafft und welche nicht.

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