Einundzwanzigster Juli
der nach Carin, der verstorbenen ersten Frau ihres Mannes benannt ist – Emmyhall heißt nur ein kleines Jagdhaus. Nein, ich glaube nicht, dass eine meiner gräflichen Tanten mit »Tante Emmy Göring« würde tauschen wollen ...
Die Tante, die in diesem Augenblick draußen vorfährt, blickt sogar recht beklommen drein, als sie die Limousine erkennt. Dabei ist auch ihr Auftritt eine Schau: Sie kommt im Motorrad mitBeiwagen. Nichts, was einen Motor hat, könnte Lexi nicht fahren, und in den Beiwagen soll in wenigen Minuten – ich! Die rettende Idee ist Mutter endlich gekommen: Wir haben kein Auto, Zugreisen sind lebensgefährlich, aber wozu haben wir eine Tante, die fliegt? Die schon am Wochenende nach Lautlitz fliegt, wie sich am Telefon herausstellte, da sie ihren Mann vermisst und wenigstens in der Nähe seiner Familie sein will.
Nach Max’ schwerer Verwundung an der Ostfront im letzten Winter mag Lexi gehofft haben, der Krieg sei für ihn zu Ende, aber selbst Onkel Georg, Max’ jüngerer Bruder, hat sich zum Dienst zurückgemeldet. Mit nur noch einem Auge und einer Hand ist er Stabschef im Allgemeinen Heeresamt in Berlin. Wie sollte Max da zurückstehen, mit nichts als einem Granatsplitter im Rücken? In Griechenland ist er jetzt, immerhin. Weit weniger gefährlich als die Ostfront, obwohl man sich da erwiesenermaßen täuschen kann.
»Sie ist da!«, melde ich. Eine halbe Stunde sitze ich schon auf dem Stuhl in der Nähe des Fensters, von dem Mutter anlässlich der Anprobe das Verdunkelungspapier entfernt hat, und spähe erwartungsvoll auf die Straße. Unter den neugierigen Blicken der Autogrammjägerinnen steigt meine Tante vom Motorrad, nimmt das Tuch ab, das sie zum Schutz gegen Qualm und Gestank vors Gesicht gebunden hatte, löst das Kinnband ihrer Lederkappe. Dann hebt sie eine Tasche aus dem Beiwagen und eilt mit gesenktem Kopf auf den Ladeneingang zu.
Die Frauen starren auf Lexis Jackenaufschlag und eine macht Anstalten, vor dem Band des Eisernen Kreuzes in den Deutschen Gruß auszubrechen, aber meine Tante hat die Absicht entweder nicht gesehen oder tut so, als ob. Mit einem letzten großen Schritt springt sie über die Schwelle, steht lächelnd mitten im Raum und fragt mit ihrer leisen, immer etwas atemlos klingenden Stimme: »Hallo Almut, kannst du ein totes Karnickel brauchen?«
Mich in meiner Ecke hat sie noch gar nicht gesehen und das ist auch besser so, denn erst einmal muss ich dasselbe Erschreckenverbergen wie beim Anblick meiner Mutter vor knapp drei Wochen. Wie alt die beiden geworden sind! Schmal und grau, mit hohlen Wangen und müden Augen.
»Nicht doch! Die Gräfin Lautlitz!« Die rosige Emmy Göring hält es nicht länger auf ihrem Anpassbänkchen. »Ich hatte doch glatt vergessen, dass Sie verwandt sind mit meiner lieben Frau Bredemer ...! Ich war nämlich dabei, Frau Bredemer, als mein Mann Ihrer Kusine das EK II verliehen hat! Im ganz privaten Kreis in unserer Villa in der Leipziger Straße, mit anschließendem Mittagessen und, herrje, ein paar Tage vor meiner schrecklichen Kieferoperation! «
Lexi nimmt freundlich Frau Görings rechte Hand, während sie die Linke gleichzeitig Mutter zum Aufstehen reicht, damit diese nicht vor ihnen beiden am Boden knien muss. Und mein Herz weiß wieder ganz genau, warum ich meine Tante in einer einzigen kurzen Woche so lieb gewonnen hatte: Sie ist klug und aufmerksam wie nur wenige Menschen, die ich kenne.
Sie ist diejenige! Ihr kann ich es erzählen!
Natürlich werde ich es nicht tun. Aber für den Bruchteil eines Augenblicks erscheint mir die Möglichkeit zum Greifen nahe, und die Erleichterung darüber ist erschreckend. Fast muss ich den Kopf schütteln, um den Gedanken wieder loszuwerden.
»Woher in aller Welt«, fragt Mutter und blickt verdutzt in die Tasche, »hast du ein ganzes, frisches, totes Kaninchen?«
»Ich hab’s geschossen«, gesteht Lexi. »Vorhin auf dem Flugplatz. Sie hoppeln dort in Scharen herum und fühlen sich sicher. Ich wollte es dir eigentlich ausnehmen und braten, bin aber nicht mehr dazu ...«
Mutter zieht Lexi wortlos am Riemen der Lederkappe zu sich heran und gibt ihr einen Kuss.
»Das muss ich meinem Mann erzählen!« Emmy Göring besichtigt zufrieden und auf Strümpfen den Inhalt der Tasche. »Als Reichsjägermeister wird er begeistert sein!«
»Vielleicht gibt das ja wieder einen Orden!«, rutscht mir zu meinem Entsetzen heraus.
Ich ernte – neben dem strafenden Blick von Mutter – zum Glück nur ein
Weitere Kostenlose Bücher