Einundzwanzigster Juli
Also seid auf der Hut – ich habe euch durchschaut!«
Und hier? Mein Blick schweift in die Runde, beginnend bei Frau Bechtolf, doch ich weiß von Anbeginn, an wem er hängen bleiben wird. Es ist Frau Koch mit ihren irren Augen, ihrem Stammeln und Weinen. Um sich und ihr Kind zu versorgen, zu waschen oder ab und zu die Kleider zu wechseln, fehlt ihr bereits die Kraft, beide stinken erbärmlich. In Jörg-Alfreds ständigem, verzweifelten Versuch, sich ihrem Griff zu entwinden, liegt vielleicht schon die Ahnung, dass er von ihr nichts mehr zu erwarten hat.
Frau Koch wird den Keller nicht überleben. Plötzlich sehe ich das mit solch unbarmherziger Klarheit, dass mir eiskalt wird und ich beschämt den Blick abwenden muss.
Und gleichzeitig weiß: nicht ich. Nicht hier. Nicht mit diesen Menschen.
In diesem Keller werde ich nicht sterben. Das ist noch nicht der Ort. So einfach ist das.
Die Prominentengucker sind schon da. Ein kleines Grüppchen von mal fünf, mal sechs Frauen wechselt sich neugierig in der Nähe des Wagens ab, neben dem der Chauffeur seine Zigaretten raucht. Sie wissen, wer im Laden ist, und dass die Dame Autogramme gibt. Ich habe auch eins, schon vor Jahren bekommen: ein Foto von ihr und ihrer kleinen Tochter, das gesamte untere Drittel bedeckt von einer großen, schwungvollen Handschrift. Für Philippa. Alles Liebe, Emmy Göring und Edda.
Groß und schwungvoll – so ist auch »Tante Emmy«, wie sich nie die Gelegenheit ergeben hat, sie zu nennen. Offiziell ist sie fünfzig geworden, wahrscheinlich etwas älter, auf jeden Fall aber schwerer und Mutter muss sich etwas einfallen lassen, um dies mit raffinierten Kniffen und Abnähern zu verbergen. Stecknadeln zwischen den Lippen, liegt sie vor der Frau des Reichsmarschalls auf den Knien und steckt den Saum ab. Früher haben das ihre Näherinnen erledigt, aber die Näherinnen stanzen jetzt in der Fabrik Patronenhülsen und Mutter wäre mit Sicherheit auch dort, wenn sie nicht unabkömmlich wäre für die Repräsentationspflichten der beiden »Ersten Damen des Reichs«.
Normalerweise schleppt sie Stoffe und Schneiderköfferchen zur Anprobe in deren Residenzen, aber heute war Frau Göring ohnehin in Berlin und hat uns am späten Vormittag kurzerhand in ihre Route eingeschoben.
Wie sie das eigentlich vereinbart, habe ich Mutter etwas hinterhältig gefragt: ihre Wut auf die Nazis und die Aufgabe, deren Frauen schöner zu machen. Aber Mutter wich mir aus und behauptete, Emmy Göring sei eine nette, mütterliche Person, die sich schützend vor jüdische Kollegen aus ihrer Zeit als Bühnenschauspielerin stelle. Hitler habe sich persönlich erbost über ihre »Judenretterei« und den Reichsmarschall wegen seiner Frau zurechtgewiesen.
Welch ein Glück!, dachte ich. Judenretterei! Da kannst du ja glatt ein reines Gewissen haben.
Worauf Mutter, die wohl merkte, dass sie mich nicht überzeugt hatte, bekräftigte: »Die Göring ist naiv und unpolitisch. Sie will niemandem Böses. Ihre große Schwäche ist der Luxus, und dass sie nicht fragt, woher der kommt.«
»Hinreißend wird das wieder, Frau Bredemer, wirklich hinreißend! «, murmelt ihre prominente Kundin und macht Anstalten, sich vor dem Spiegel zu drehen, wobei sie Mutter den Saum aus der Hand reißt und eine der eben gesteckten Nadeln in die Finger rammt. »Oooh ... wie ungeschickt! Entschuldigen Sie! «
Sie ist ehrlich zerknirscht. »Bleiben Sie bitte stehen, Hohe Frau«, zuzzelt Mutter an den Nadeln zwischen den Lippen vorbei; ein Wunder, dass sie keine verschluckt hat. Oder doch? Sie blickt ein wenig starr, wie ich meine, aber das kann auch an »gebückter Haltung auf leeren Magen« liegen oder daran, dass sie, eine geborene Gräfin von Lautlitz, das geborene Fräulein Emmy Sonnemann mit »Hohe Frau« anzureden hat. In solchen Momenten wird es ihr leidtun, meinen bürgerlichen Vater geheiratet zu haben.
Ich wäre auch eine Gräfin, wenn sie das nicht getan hätte! Einige Sekunden bewege ich, auf dem Stuhl zwischen Schaufenster und den beiden verhüllten Ankleidepuppen sitzend, zierlich mein Bein und sonne mich in der Vorstellung, aber vergebens, weder das Bein noch ich noch die Vorstellung machen etwas her. Ich kenne zu viele Gräfinnen, um nicht den Verdacht zu hegen, es wird überschätzt. Mit Sicherheit lebt keine von ihnen wie Emmy Göring in einem Palast mit Löwenbabys, eigenem Kino, russischem Dampfbad und einer Empfangshalle von der Größe eines Kirchenschiffs!
Ein Palast allerdings,
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