Einundzwanzigster Juli
bleibt ganz still, und zu meiner Überraschung fühle ich, wie zum ersten Mal seit unserem Aufbruch aus Reinerz meinen Händen warm wird, meinen Armen. Als hätte bis zu diesem Moment mein Blut gestockt.
Aufatmend lege ich meine Beute zu den Holzscheiten neben der Baracke. Die Axt steckt immer noch im Block, Max steht wie angefroren. »Ich glaube, sie tun einem nichts, wenn man ihnen genau zeigt, was man vorhat«, teile ich ihm flüsternd mit.
Ein schiefes Lächeln huscht über sein Gesicht, er schüttelt den Kopf, kommt auf mich zu. »Auftrag von Lexi«, sagt er und nimmt mich in den Arm.
Statt der angekündigten Lebensmittel zum Selberkochen gibt es an diesem Abend ein herzliches Wiedersehen mit wässriger Brühe, dazu einem Laib Schwarzbrot und etwas Muckefuck. Wir zelebrieren das Abendessen wie ein großes Mahl, jeder hat sich umgezogen, der Ofen bollert. Das Schwarzbrot schneidet Julius, der das größte Geschick dafür hat, aus einem kleinen Brot einundzwanzigdünnste Schnitten zu zaubern. Onkel Teddy spricht ein Dankgebet für unsere sichere Ankunft, für das Dach über dem Kopf und das Essen auf dem Tisch; er betet für unsere Verstorbenen und alle, die sich in Not und Angst befinden, ohne unser großes Glück zu haben: zusammen zu sein und einander stützen zu können.
Zum Schluss bittet mein Onkel um Bewahrung für jene, die uns zur Seite stehen, Lexi und Baronin Guttenberg und andere, deren Namen wir nicht kennen. Er endet mit einem kräftigen Amen, doch noch die ersten Minuten unserer Mahlzeit stehen unter dankbarem, fast andächtigem Schweigen.
Angekommen zu sein, egal wo! Einander nicht verloren zu haben! Nicht mehr im Zug zu sitzen, die verächtlichen Gesichter der SS vor Augen!
Auch in unserer Viererstube gibt es einen kleinen Ofen, der tapfer, aber vergeblich gegen den strengen Frost anheizt. Als wir vom Abendessen kommen, zeichnen sich bereits die schönsten Eisblumen ans Fenster und wir gehen voll bekleidet zu Bett, mit Schal um den Hals und dicken Wollstrümpfen an den Füßen. Matratze und Kissen sind mit Stroh gefüllte, kratzige Jutesäcke, das Gewicht der Wolldecke kaum zu spüren, aber etwas von der Wärme des Aufenthaltsraums scheint sich in meinem Körper halten zu wollen. Mit dem Gesicht zur Wand, um dem Scheinwerferlicht vor dem Fenster zu entgehen, schlafe ich fast auf der Stelle ein.
Ich habe Erfahrung mit schlechten Träumen. Mit den Bildern und Stimmen, die mir schier den Kopf sprengen, der Luft abschneidenden Angst auf der Brust, der entsetzten Starre der Beine. In dieser Nacht kommt eine neue Erfahrung hinzu: von einem schlechten Traum aufzuwachen, um zu entdecken, dass er Wirklichkeit ist.
Nanni, Ina und Fey drängen sich bereits am Fenster, als ich aus dem Etagenbett springe. Sie können nicht wirklich erwartet haben, etwas anderes zu sehen als den Zaun, aber den Albtraum im Bett liegend zu erleben, würde nichts anderes bedeuten, als dass keine von uns in einem Bett je wieder Ruhe fände.
Hinter dem Zaun geifern Hunde. Ich hätte mir denken können, dass es im Lager welche gibt, obwohl wir den ganzen Nachmittag nichts von ihnen bemerkt haben. Doch nun sind sie da, rennen unsichtbar auf und ab und steigern sich in hysterisches Bellen und Heulen. Die Lagersirene blökt einen immer gleichen dumpfen, abgehackten Ton; Stimmen und Gebrüll fallen dazwischen. Ich möchte mir die Ohren zuhalten, laut aus meinem Kopf schreien, was hineindrängt und schon beginnt sich festzusetzen. Stattdessen klammere ich mich stumm an den nächstbesten Arm wie an ein Rettungsfloß.
»Ausbrecher!«, flüstert Nanni. »Gott helfe ihnen!«
Aber Gott kann nicht hier sein in dieser Nacht. Das Bellen der Hunde schwillt an, mischt sich mit schrillen, entsetzten Schreien, und hätte ich diese Schreie nicht woanders schon gehört, wäre ich überzeugt gewesen, dass sie weder von Mensch noch Tier stammen können.
Nach einer Minute ist alles still. Nur die Sirene brüllt weiter, bevor auch sie mitten im Ton abbricht. Starr vor Angst klammern wir uns aneinander. Nanni murmelt ein Gebet – für den Unglücklichen? Für uns? Hinter dem grellweiß angestrahlten Hof liegt eine Mauer aus kalter, undurchdringlicher Schwärze.
Aus dem Radio, das uns der Lagerkommandant versprochen hatte, ist ein Lautsprecher geworden, und der überträgt nur, was man uns zu hören gestattet: den Heeresbericht und die Durchhalteparolen ans deutsche Volk. Kunstvolle Worte sind es, die Goebbels auftürmt, und dennoch lassen
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