Einundzwanzigster Juli
ich.
»Nein, zum Glück nicht«, antwortet sie. »Ich weiß selbst nicht, warum ich das Album mitgenommen habe. Ich dachte allen Ernstes, in wenigen Tagen wäre ich wieder zu Hause, da ich doch nichts von dem Attentat wusste. Wie hätte ich ahnen sollen, dass sie mich nach Deutschland verschleppen?«
Fey und ihr Mann besitzen einen Gutshof bei Friaul, ihr Mann Detalmo kämpft aufseiten der italienischen Partisanen. Auf Fotos sieht er aus wie ein großer Junge, und die beiden Söhne sind bildhübsch mit runden mädchenhaften Gesichtern und blonden Locken. Nur die Bilder ihrer Eltern traut Fey sich nicht aufzuhängen, da die beiden Sturmbannführer, wenn sie zur Kontrolle kommen, ihren Vater erkennen und die Fotos beschlagnahmen könnten.
Feys Vater, Ulrich von Hassell, ist ein eleganter älterer Herr mit Schnurrbart, klug und freundlich blickend, ihr ganzer Stolz. Bei ihrer Verhaftung wurde ihr ohne Umschweife mitgeteilt, er sei gehenkt worden. »Aber diese Leute lügen und betrügen, ich glaube ihnen kein Wort«, erklärt sie zornig.
Fey hat zwei ältere Brüder in Deutschland, die nicht verhaftet wurden, selbst nachdem sich einer von ihnen der Gestapo im Austausch für sie angeboten hatte. Warum es dennoch sie getroffen hat, warum sie den ganzen Weg aus Italien hergeschleppt wurde, obwohl sie ihren Vater seit über einem Jahr nicht gesehen hatte, bleibt ein Rätsel. Jeden Morgen sehe ich sie die Bilder ihrer Kinder und ihres Mannes verzweifelt, trotzig und sehnsüchtig betrachten, bevor sie das Zimmer verlässt und zu der hilfsbereiten, humorvollen Fey wird, die alle ins Herz geschlossen haben. Sie scherzt, heitert andere auf, sie lacht das Böse einfach fort! Max, der stundenlang düster und schwermütig vor dem Ofen sitzt und die Gefangenschaft in ein langes Gedicht zu fassen versucht, macht einvergnügtes Gesicht und legt sein Schreibzeug beiseite, sobald sie nur auftaucht.
Kann man gegen das Böse anlachen? »Man muss!«, behauptet Onkel Teddy. »Nichts kann der Teufel weniger leiden, als dass man über ihn lacht.«
Nanni summt, während sie die Medizin für ihren Vater zerstampft. Sie kocht Tee, löst das Pulver darin auf, bringt es ihm und wartet, bis er getrunken hat; sie prüft das Glas, damit kein Rest darin verbleibt. Wenn Dr. Goerdeler in Onkel Jaspers Zimmer kommt, um ihm seine tägliche Spritze zu geben, hat sie diese schon aufgezogen und er kann sich darauf verlassen, dass alles penibel stimmt.
Sie wäscht, stopft und flickt unermüdlich – nicht nur für ihre eigenen Eltern und Brüder, sondern nun auch für die »Eltern Kuhn«. Ich selbst finde Frau Kuhn anstrengend in ihrem Kummer; das Grämliche ist auf bestem Wege, sich dauerhaft in ihre Gesichtszüge zu graben. Aber Nanni schaut über all dies hinweg, ist geduldig und freundlich, ja, ich habe fast den Eindruck, je unangenehmer die Umstände, desto liebevoller ist Nanni, und oft gelingt es ihr, den Dingen damit doch noch eine Wendung zum Guten zu geben.
Wir sind einundzwanzig in der Baracke – einundzwanzig Häftlinge, einundzwanzig Weisen, das Böse zu überstehen.
Goerdelers lesen Rilke, rezitieren Gedichte aus dem Kopf und reden lange und ernsthaft darüber, was diese über den Menschen und unsere jetzige Lage aussagen. Ihnen zuzuhören, aber auch Julius, Eberhard und Anna, die bei Max Unterricht nehmen, beunruhigt mich. Alle außer mir sind so gebildet, so belesen, finden Trost und Antwort in Gedanken, die andere vor langer Zeit aufgeschrieben haben. Es ist wie eine gemeinsame Sprache, die ich als Einzige nicht gelernt habe. Mir hat man in den letzten Jahren bloß das Brevier der Hitlerjugend beigebracht, und es nützt mir nicht das Geringste.
»Willst du nicht mitmachen, Fritzi?«, lädt Max mich ein. »Heute soll es um Dante gehen.«
»Ein andermal vielleicht«, lehne ich rasch ab, damit niemand merkt, wie erbärmlich es um mein »Mitmachen« bestellt wäre.
Aber lernen will ich – sobald wir hier herauskommen! Ich nehme es mir fest vor. Heimlich versuche ich, einige Gedichtzeilen aufzuschnappen und in Erinnerung zu behalten, einen Anfang zu machen.
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn ...
Im Einschlafen flüstere ich die Worte vor mich hin, um hinter ihr Geheimnis zu kommen.
Tante Adele schwelgt in vergangenen Abenteuern. »Kann man so viel Grrrauen erfahrrren in einem einzigen Leben?«, ruft sie
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