Einundzwanzigster Juli
Heeresbericht und Reden nur einen Schluss zu: Die Front befindet sich fast hinterm Lagertor.
»Sie werden überrollt«, meint Onkel Teddy zufrieden. »Als sie vor ein paar Wochen begannen, unsere Baracke zu bauen, können sie nicht damit gerechnet haben, dass es so schnell geht. Sonst hätten sie uns doch gleich woanders hingebracht!«
»Du meinst, wir müssen wieder weg?«, fragt Ina erschrocken.
Furcht durchfährt mich. Wieder weg ...? Wir sind doch gerade erst angekommen! Haben uns eingerichtet, Wasser erhitzt, gebadet und die Haare gewaschen, just in diesem Augenblick sind zwei Häftlinge aus dem Hauptlager damit beschäftigt, hölzerne Trennwände zwischen unsere offenen Toiletten zu bauen!
»Nur nicht wieder ein Transport!« Ina spricht aus, was wir alle denken. Aber Onkel Teddy meint: »Früher oder später werden sie Entscheidungen treffen müssen.«
Entscheidungen? Den Rest des Satzes dürfen wir selbst hinzudenken: das Lager zu evakuieren oder den Russen in die Hände zu fallen. Ich finde mich vor der Eingangstür zur Baracke wieder und wünschte, ich hätte einfach nicht zugehört.
»Wir müssen bei Kräften bleiben, Fritzi«, sagt Mutter hinter mir. »Lass uns ein paar Schritte gehen.«
»Und die da?« Verzweifelt deute ich auf unsere Wachen, die erwartungsvoll von den Türmen schauen, sobald sich im Hof Bewegung zeigt. Nach Anbruch der Dunkelheit, wenn uns das Verlassen der Baracke streng verboten ist, dürfen sie auf uns schießen.
Einige Versuche, unter ihren Augen spazieren zu gehen, habe ich bereits hinter mir, aber jedes Mal bin ich nach wenigen Minuten zurück in die Baracke geflüchtet. Sie verfolgen nicht nur jeden unserer Schritte, sie rufen uns sogar Beschimpfungen zu.
»Was scheren uns diese Hohlköpfe? Tu, als seien sie nicht da, sonst fühlen sie sich am Ende noch wichtig!« Mutter wirft den Posten einen so hochmütigen Blick zu, dass ich beinahe lachen muss.
Sie hält mir den Arm hin, ich hake mich ein. »Du bist eine richtige Aristokratin!«, ziehe ich sie auf. »Seit du in der Patsche sitzt, ist es nicht mehr zu übersehen!«
»Nichts verhilft zur Haltung wie eine ordentliche Patsche!«, stimmt sie zu. Ich lehne mich an ihre Schulter, sie legt den Arm um meine Hüfte. Wie dünn und knochig sie geworden ist seit unserer letzten Umarmung! »Ich glaube, Vater wäre zufrieden mit uns«, meint sie. »Bisher halten wir uns gut.«
»Bist du ihm böse? Wenigstens ein bisschen?«
»Böse! Ich wünschte, ich könnte ihm sagen, wie einverstanden ich bin mit dem, was er versucht hat. Ich hoffe, er weiß es, wo immer er jetzt ist.«
»Aber es war doch vergebens.«
»Das können wir nicht wissen, Fritzi. Vielleicht bringt es andere zum Handeln. Vergiss nicht, wer da gestorben ist – die Besten der Besten! Das allein muss doch, verdammt noch mal, jemanden zum Handeln bringen!«
Einen Augenblick zieht sie mich so heftig und verzweifelt an sich, dass ich vor Schreck und Schmerz fast aufschreie. Vorsichtig wende ich ein, dass das Volk sich hinter Hitler gestellt hat, alle Rückschläge an der Front werden jetzt den »Verrätern« angelastet.
»Die Tat hat der Gegenseite noch geholfen, Mutter!«
»Man darf dennoch nicht glauben, dass es vergebens war. Auf den ersten Blick sieht es danach aus, aber vielleicht haben sie viel weiter in die Zukunft gedacht, als wir ahnen.«
Die beiden Männer, die unsere Toilettenkabinen gebaut haben, treten aus der Baracke und werfen uns einen neugierigen Blick zu. Die Lagerleitung hat dafür gesorgt, dass wir nicht mit ihnen reden können – es sind Tschechen –, aber wir grüßen einander mit einem Nicken und Lächeln. Sie tragen Holzpantoffeln über ihren bloßen Füßen und trotz der eisigen Witterung nur einen dünnen, gestreiften Häftlingskittel.
Was mögen sie über uns denken – uns, die Privilegierten, die sich über die Unzumutbarkeit offener Toiletten beschwert haben? »Sonderhäftlinge« heißen wir nun und befinden uns in einem streng abgeschirmten »Sonderlager«. Wie es im Hauptlager auf der anderen Seite des Zauns zugeht, können wir nach dem nächtlichen Erlebnis nur ahnen, aber es reicht, um sich unseren Helfern gegenüber schuldig zu fühlen.
»Danke.« Mutter legt die Hand auf ihr Herz, und die beiden verstehen und lächeln.
Ich helfe Fey, Fotos an die Wand rechts und links neben unserem Stubenfenster zu pinnen. Geistesgegenwärtig hat sie bei ihrer Verhaftung ein Album eingepackt.
»Als ob du es geahnt hättest«, meine
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