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Einundzwanzigster Juli

Titel: Einundzwanzigster Juli Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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Stimmen, das Quietschen der Räder und ein scharfes, metallisches Krachen, wenn Wagen umgekoppelt werden. Von Reinerz nach Breslau zu gelangen, auf der Karte im Hotel nur ein Katzensprung, ist jetzt eine Tagesreise. Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft wir unterwegs anhalten, wie viele Stunden wir auf der Strecke warten mussten, weil alle Bahnhöfe und Zufahrtswege von Truppentransporten verstopft sind. Jetzt ist es Nacht und ich habe meine eigene Befürchtung: Bestimmt sitzen wir noch tagelang in diesem Schuppen!
    Die eisige Kälte in der Baracke macht allmählich einer bulligen, schneidenden Wärme Platz. Funktioniert das Abzugsrohr? Der kleine Ofen raucht unaufhörlich. Dr. Goerdeler müht sich um Onkel Jasper, dessen pfeifendes Atmen jede Ecke des Raumes füllt.
    »Ist das nicht gefährlich?«, fragt Fräulein Gisevius nervös. »Wir könnten alle ersticken!«
    Max und Onkel Teddy machen sich an dem Ding zu schaffen, klopfen und stochern und die Luft wird ein wenig besser – zumindest bilde ich es mir ein, weil jemand etwas unternommen hat und ich gern glauben möchte, dass es hilft, sich selbst zu helfen.
    Fey und Tante Ilselotte verteilen Decken, die wir auf dem Boden der Baracke vorgefunden haben, und hängen eine quer vor die freistehende Toilette, worauf die Ersten wagen, diese verschämt zu benutzen. Mutter duckt sich angestrengt, um auch ihre obere Hälfte während des Geschäfts zu verdecken, was die Peinlichkeit ihrer Absichten noch unterstreicht.
    Ich möchte im Boden versinken. Kann sie es nicht einfach hinter sich bringen? »Wirrrf dirrr eine Decke überrr den Kopf!«, empfiehlt Tante Adele und plötzlich gibt es kein Halten mehr, die Anspannung der letzten Stunden entlädt sich in schallendem Gelächter. Ich hoffe, sie hören es draußen.
    Später erzählen wir uns Witze und Geschichten, niemand verliert die Beherrschung. Tante Adele gibt zum Besten, wie sie während der Rrrussischen Rrrevolution Tag und Nacht an der Gefängnismauer ausharrte, um Nellys Vater, der im Kerrrker saß, bei seiner Flucht zu helfen. Die meisten kennen die Geschichte schon, aber diesmal unterbricht niemand. Aufrecht und triumphierend sitzt Tante Adele anschließend auf ihrer Decke.
    Allmählich werden die Stimmen leiser und verstummen eine nach der anderen, bis auch die Letzten, am Boden liegend oder sitzend, eindösen. Das Bild, mit dem ich in den Schlaf hinübergleite, ist von Fey, wie sie noch einmal den Blick schweifen lässt und jeden Einzelnen von uns lange und voll Stolz betrachtet.
    »Runter mit den Abzeichen!«
    An den barschen Ton der Soldaten, die uns begleiten, haben wir uns fast schon gewöhnt. Den dritten Tag sind wir mit ihnen unterwegs und sie geben sich alle Mühe zu zeigen, wer die Herrscher über den Zug sind. Nicht einmal aufs Klo dürfen wir, ohne demütig um Erlaubnis zu bitten, und sie machen sich einen Spaß daraus, uns zusammengedrängt sitzen zu lassen, während sie sich der Länge nach über die freien Bänke flegeln.
    Immerhin hat der SS-Trupp, der uns in Breslau übernommen hat, offenbar nicht die Auflage erhalten zu schweigen. Im Gegenteil: Sie machen kein Hehl daraus, dass sie zwar nicht wissen, wohin man uns bringt, aber keinen Zweifel hegen, dass uns das Schlimmste erwartet.
    »Am besten, ihr esst alle Vorräte auf«, sagt einer. »Es wäre schade drum.«
    »Versucht zu schlafen. Das ist das Beste für euch«, orakelt ein anderer.
    Wenn sie beabsichtigen, uns mit ihren Andeutungen nervös zu machen, dann haben sie Erfolg. Die Anspannung wächst, steigert sich ins Unerträgliche, Angst hängt in der Luft und perlt in kleinen Tautropfen von den Wänden. Einige beginnen tatsächlich, ihre Vorräte zu essen; ich weiß nicht, wie sie es fertigbringen, etwas zu schlucken.
    Und nun das. Der Kommandant der SS-Eskorte steht vor Max und Onkel Teddy, weist herrisch auf die Abzeichen und Schulterstücke an ihren Uniformen und fordert sie auf, diese abzureißen. »Das kommt nicht infrage«, erklärt Onkel Teddy.
    Der Kommandant läuft rot an. »Was erlauben Sie sich!«, brüllt er so schneidend, dass wir alle zusammenfahren.
    »Das mag Ihnen nicht passen, aber wir sind immer noch Offiziere der deutschen Wehrmacht«, antwortet Onkel Teddy ruhig.
    »Sie sind eine Schande für die deutsche Wehrmacht!«, brüllt der Kommandant.
    Weiter kommt er nicht. Es ist, als legten seine Worte einen Schalter um, wir sind auf dem Schlachtfeld und aus meinem liebenswürdigen Onkel Max springt ohne jede Vorwarnung der

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