Einundzwanzigster Juli
in der Toilettenkabine neben meiner, nachdem sie mir minutenlang stinkende Leichen in der Newa, gefledderte Leichen in der Gorochowaja Uliza und zerschmetterte Leichen am Fuße der Feste Petersburg ausgemalt hat, aus denen sich Hungernde Batzen schnitten.
Wie ein Maschinengewehr knallt das Stakkato ihrer rauen Stimme an die Trennwand zwischen uns. Die Toilette ist der Ort, an dem man Tante Adele nicht entkommt. »Mann oder Frrrau?«, forscht sie, sobald jemand beim Anblick ihrer riesigen Pantoffeln, die unter der Klotür hervorschauen, nicht wieder das Weite sucht. Gibt sich eine Frau zu erkennen, rattern Wortsalven auf sie nieder, verschwindet ein Mann im Verschlag nebenan, herrscht peinlich berührtes Schweigen.
Ich verstehe gar nicht, warum die anderen flüchten. Wenn nur die Hälfte all dessen stimmt, was Tante Adele perrrsönlich erlebt haben will, halte ich es für durchaus möglich, dass sie unbesiegbar ist – und dann wäre es doch kein schlechter Plan, sich in ihrer Näheaufzuhalten! Im Übrigen schafft sie es durch ihre lebensnahen Schilderungen unappetitlichster Grrräuel immer wieder, dass mein nagendes Hungergefühl zumindest vorübergehend verschwindet.
Markus zeichnet. Die Umrisse hat er dünn mit Bleistift skizziert, nun verfolge ich fasziniert die Striche der zierlichen Feder. Unter leisem Kratzen entstehen der Zaun mit dem dahinterliegenden hohen Kiefernwald, die Wachtürme mit dem Schatten eines Soldaten, die dicken Holzlatten, aus denen die Baracke gezimmert ist. Die breite Eingangstür mit den beiden vergitterten Fenstern links und rechts, das spitz zulaufende Dach mit einer weiteren kleinen Luke. Mit Punkten und feinen Strichen tüpfelt er den kahlen Sand- und Lehmboden des Hofes und den Pfad, der sich auf dem Weg von der Eingangstür zum Holzplatz gebildet hat, seit wir vor zwei Wochen in Stutthof angekommen sind.
Weiter vorne im Zeichenblock sind die Bilder, die Markus niemandem zeigt, Bilder aus der Sanitätsbaracke in Dachau, wo er arbeiten musste, bevor er nach Reinerz gebracht wurde.
»Mein Bruder hat auch gezeichnet«, sage ich zu ihm.
»Ich weiß«, erwidert er, »ich erinnere mich gut an ihn! Ich war schockiert, als ich von seinem Tod erfuhr. Fabian war doch genauso alt wie ich.«
»Stimmt das? Dann wäret ihr jetzt ...«
»Dreiundzwanzig«, sagt Markus und tupft seinen Federkiel in die Tinte, und plötzlich ertrage ich es nicht mehr, ihm zuzusehen, muss aufstehen und zum Fenster, irgendetwas anderes betrachten, und wenn es nur der Zaun ist. Ich habe schon sehr, sehr lange nicht mehr an Fabian gedacht, oder daran, dass auch ich früher gern gezeichnet habe. Wie dumm von mir, es aufzugeben – nur weil meine Bemühungen angesichts seiner Kunst so plump wirkten!
»Gibst du mir wohl ein Blatt?«, frage ich Markus.
»Aber bitte«, sagt er und schiebt gleich auch seine Stifte zu mir hinüber.
Tante Sofie deckt den Abendtisch. Sie richtet die Blechnäpfe für den Tee aus, als ob es Kristallgläser von unschätzbarem Wert wären, legt aus Papier ausgeschnittene Blüten und Blätter zwischen die Teller und schiebt sie prüfend hin und her.
»Ich denke daran, die Kerzen heute einmal etwas anders zu stellen«, sagt sie und betrachtet kritisch ihr Werk.
Wilhelm, der älteste Sohn von Tante Sofie und Onkel Jasper, ist in Russland gefallen, und in letzter Zeit sehe ich Tante Sofie häufig mit Mutter im Hof auf- und abgehen. Zwei schlanke, beherrschte Frauen, die Anmut und Würde ausstrahlen, ins Gespräch vertieft, einander völlig zugewandt. Noch nie hat einer der Posten ihnen etwas zugerufen.
»Stell dir vor«, sagt Tante Sofie und platziert ihre Kerzen in mehreren Dreiergruppen, die uns an die dritte Adventswoche erinnern sollen, »die Baracke sei ein Schloss! Nicht unversehrt, dafür hat der Feind zu viele Steine herausgebrochen. Aber zum Innersten muss er erst einmal vordringen!«
Z WÖLF
Dass es ausgerechnet Nanni als Erste trifft – damit hat wohl niemand gerechnet. Seit Tagen hatte sie kaum geredet, um ihren schmerzenden Hals zu schonen, sich aber ansonsten nichts anmerken lassen, sodass ihr Zusammenbruch völlig überraschend kommt. Hohes Fieber, Schwindel, Kopfschmerzen ... Dr. Goerdeler macht ein bedenkliches Gesicht, er vermutet Scharlach und weist an, Nanni getrennt von uns unterzubringen. So schwach und angegriffen, wie die meisten bereits sind, wäre mit einer Epidemie nicht zu spaßen.
Unter bedrücktem Schweigen vollzieht sich der kleine Umzug; man merkt der
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