Einzelstücke - Möller, M: Einzelstücke
und sich Schritte darin verlaufen.
»Anna? Ich sitze jetzt eine Tür weiter auf dem Klodeckel.«
Und warum macht er das?
»Ist alles okay?«
»Du sitzt neben mir auf dem Klodeckel der Damentoilette. Ist bei dir alles okay?«
Schweigen.
Ich kann nicht reden. Ich kann mich nicht bewegen.
»Geht es dir gut?«
»Ja, danke.«
Wieder Schweigen. Moritz scheint nicht vorzuhaben, sich von seinem Klodeckel wegzubewegen.
»Könntest du mich bitte in Ruhe lassen.«
»Ich habe sie direkt erkannt. Sie sieht dir ähnlich.«
»Bitte?«
»Deine Mutter.«
»Ich habe mit Hedi überhaupt nichts gemeinsam. Sie ist egoistisch und setzt ihre Bedürfnisse über andere und besitzt einen starken, starrsinnigen Willen in allem, was sie tut.«
»Bewunderung?«
»Nein. Also. Ganz sicher nicht.«
Ja, das war’s. Und es stört mich maßlos, dass Moritz dies einfach so erkennt. Am liebsten würde ich ihn in seiner Toilette versenken.
»Anna. Vielleicht solltest du den Blick mal auf dich selbst lenken. Deine überhebliche Art, deine Selbsteingenommenheit, deine Unverfrorenheit betrunken in der Redaktion vorbeizukommen, deine etwas unsymmetrische Nase, das permanente Fummeln am Pony und der Geruch deiner Haare nach Badezusatz.«
Ich erinnere mich, diese Liste bereits einmal bei unserem Shooting gehört zu haben, und ärgere mich darüber, dass Moritz sie erneut aufführt. Er ist und bleibt ein Holzklotz. Ein sehr schönes Mängelexemplar an Mann, in das man sich ohne Zweifel auch unabsichtlich verlieben kann. Eine Tatsache, die er von mir niemals erfahren wird. Dessen bin ich mir sicher.
»Das alles mag ich an dir, Anna Lenartz.«
Ich stocke.
»Deine Unverfrorenheit, deine etwas unsymmetrische Nase, dein Pony, den Geruch deiner Haare.«
Und bin erregt.
Auf der Damentoilette.
»Ist das jetzt eine neue Taktik, um mich von der Toilette zu locken? Netter Versuch!«
Als Antwort höre ich das Schwingen einer Toilettentür.
*
Meine Mutter hat noch dieselbe Altachtundsechziger-Frisur wie vor zwanzig Jahren. Nur dass das saftige Goldblond an einigen Stellen einem schütteren Weißgrau gewichen ist. Ihre blauen Augen strahlen die gewohnte Unbekümmertheit aus, wie damals, kurz bevor sie meinen Vater und mich verlassen hat, die Haut darum liegt in Falten. Sie ist noch genauso schlank wie damals, und das weite orangefarbene Leinenkleid und der rote Hut hätten ebenso gut aus ihrem Kleiderschrank neben den Sachen meines Vaters herausgezogen worden sein können.
Ich stehe am Fenster neben der Orchidee, die Fred gerade gegossen hat, und blicke zu Hedi hinunter. Beobachte, wie ihr Kleidsaum im Sommerwind flattert, wie sie mit einer Hand den Hut auf ihren Kopf drücken muss, damit er nicht wegfliegt, wie sie zu der Treppe schaut, die ins Gebäude führt, in der Hoffnung, dass ich jeden Augenblick dort erscheinen werde.
Nach einer halben Stunde ist sie endlich verschwunden.
Ich fühle mich glücklich. Traurig. Frei.
*
Später am Nachmittag, nachdem Moritz nicht mehr auffindbar scheint und ich den Sportteil eines Kollegen korrekturgelesen habe (ein neu erschlossenes Arbeitsfeld, seitdem ich Herrn Bender beim Geschäftsessen die Eckpunkte von Michael Schumachers Biografie kurz angerissen hatte), erscheint das Bild von meinem Lieblingsnachbarn Tim auf meinem Handydisplay.
»Hallo Tim! Alles klar bei dir?«
»Sicher. Was macht Frau Nachbarin?«
»Ich bin noch in der Redaktion.«
»Nach sechzehn Uhr?«
»Es ist schon nach sechzehn Uhr?«
»Jetzt tu nicht so!«
»Okay. Gewonnen. Ich warte nur noch kurz, bis Herr Bender aus seinem Büro kommt, damit er sieht, dass Frau Lenartz zu so später Stunde noch fleißig ist.«
»So kenne ich meine Anna. Ich bin zehn Jahre jünger, und du hast schon so viel von mir gelernt. Gehst du heute Abend mit mir in ’nen neuen Club auf den Ringen? Wir tanzen ein bisschen, betrinken uns und suchen uns jemanden zum Rumknutschen. Was meinst du?«
Hmm. Ich beiße mir auf die Unterlippe, während ich darüber nachdenke. In Anbetracht der Tatsache, dass Moritz mich langsam schwindelig macht und in mir seine Worte von der Damentoilette immer wieder zwischen Herz und Magen hin- und herpendeln, ist die Idee, mit einem anderen Typen zu knutschen, gar nicht so schlecht. Wenn man von einem Mann loskommen möchte, gibt es ja kein schnelleres und probateres Mittel als einen anderen Mann. Getreu dem Motto: Wo Männer sind, ist Hoffnung!
»Ich bin dabei«, antworte ich Tim, ohne weiter zu überlegen. »Übrigens
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