Einzelstücke - Möller, M: Einzelstücke
gießt. »Ich finde, du hast etwas von dieser französischen Schauspielerin aus den Sechzigern. Wie hieß die noch? Du weißt schon. Ach, wie dem auch sei«, Fred schlägt die langen, dünnen Beine auf meiner Schreibtischkante sitzend übereinander, »zeigst du mir, wie dieser verruchte Blick funktioniert?« Mein Kollege kneift die Augen etwas zusammen und streckt mir seine schönsten Schmolllippen entgegen. »So? So in etwa? Sag, hast du mit Moritz geflirtet? Geschlafen? Sag’s mir ruhig. Mich kannst du nicht mehr schocken. Ich hab’s mir gestern Nacht eh schon vorgestellt.«
Im Verhältnis zu Freds Stimme, die immer leiser wird, werden meine Augen immer größer.
»Ich meine, du und ich und der Fotograf. Rrrrrr, Baby!«
Ich lege skeptisch die Stirn in Falten, als uns der von der Bürotür herannahende Moritz unterbricht.
»Ich muss weg, Sweety!«, beeilt sich Fred zu sagen und rutscht von meiner Schreibtischkante.
»Nur noch eins!«, rufe ich ihm hinterher und frage dann etwas leiser: »Und wie war ich?«
Fred zwinkert mir zu, nachdem das Objekt seiner sexuellen Begierde an ihm vorbeigelaufen und vor meinem Schreibtisch stehen geblieben ist.
Moritz trägt wie immer das Hemd lässig über der Jeans, die Haare etwas wirr und eines dieser Schaldinger, in Schwarz mit dünnen weißen Streifen, um seinen Hals geschwungen. Bevor er zu reden beginnt, mustert er mich erst von oben bis unten.
»Hallo Anna.«
»Hallo.«
Sein Blick wandert an mir herab auf meinen Arbeitsbereich, so dass ich schnell die Seiten in der MeMa verschlage. Mein Bauch kribbelt. Die Atmung wird flacher.
Jetzt beruhige dich, Anna! Und gestatte Moritz nicht, einen derartigen Einfluss auf dich zu nehmen. Ich muss umgehend eine Seherin oder Hexe oder Ähnliches aufsuchen, die mich von diesem Fluch befreit.
»Was gibt’s? Ein neues Shooting? Eine neue Frau des Monats?«, antworte ich Moritz möglichst lässig.
»Nein. Draußen wartet Besuch auf dich.«
Besuch? Sofort schießt mir Lena durch den Kopf, bei der ich mich seit vier Tagen nicht mehr gemeldet habe. Oder Thomas. Oder noch schlimmer, Monamour.
»Ich habe jetzt keine Zeit. Kann das nicht warten? Wer ist es denn?«
»Hm. Ich glaube, deine Mutter.«
…
Hedi.
Hedi?
Kann nicht sein.
Hedi und ich haben uns ewig nicht gesehen. Sie weiß nichts von mir. Wie sollte sie …
Es wird sich doch keiner einen so makabren Scherz erlauben …
Und wenn doch?
Hedi.
Das Blut gefriert in meinen Adern, mein Mund ist trocken, dass ich nicht schlucken kann, meine Finger zucken, und der Kopf findet kein einziges Wort.
»Du siehst ein bisschen blass aus. Ist alles in Ordnung?«
Ich sehe mit leerem Blick durch Moritz hindurch. Langsam versuche ich mich zu sammeln, bis meine Hände nach der MeMa greifen und sie immer penibler auf meinem Schreibtisch im rechten Winkel zur Computertastatur ausrichten.
»Ich habe doch gesagt, ich habe keine Zeit. Keine Zeit. Natürlich. Ich arbeite gerade. Wieso blass? Ich bin immer ein bisschen blass. Alles in Ordnung. Es ist alles in Ordnung.«
Mit einem Ruck schiebe ich die Zeitschrift zur Seite, erhebe mich von meinem Schreibtisch und steuere statt zum Büroausgang in Richtung Toiletten, als ich feststelle, dass Laufen im Moment gar nicht so gut läuft. Also schiebe ich eine der Klotüren auf, lasse sie hinter mir ins Schloss fallen und sinke auf einen heruntergeklappten Toilettendeckel, während eigenartigerweise die Eiseskälte in mir gerade in heißes Kribbeln umschlägt.
Was macht meine Mutter hier? Wieso taucht sie einfach so auf? Sie kann nicht einfach so hier nach mir fragen, nachdem ich sie Jahre nicht gesehen habe. Woher weiß sie überhaupt, wo ich arbeite? Alles, was sie und mich verband, war die alljährlicheWeihnachtskarte. Und während ich meine Mutter noch darüber in Kenntnis setzte, wenn mein Wohnort sich wechselte, hatte ich oft genug keine Ahnung, wo meine Mutter gerade lebte. Nein, Hedi interessiert sich nicht für mich. Moritz wird sich geirrt haben! Selbst dieser Gedanke durchzuckt mich eigenartig.
»Anna?«
Mist. Moritz’ Stimme wandert durch die Damentoilette. Langsam ziehe ich meine beigen Pumps vom Boden, in der Hoffnung, so unerkannt zu bleiben.
»Anna, ich weiß, dass du hier drin bist. Die Toilette in der Mitte ist abgeschlossen, ohne dass sie Füße beherbergt. Außerdem habe ich dich eben hier reinlaufen sehen.«
Noch mal Mist. Warum macht er dies?
Ich höre, wie sich von der Toilettenkabine neben mir die Tür öffnet
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