Einzelstücke - Möller, M: Einzelstücke
hat sie doch gemeint, dass sie uns jetzt bräuchte.«
»Sicher.« Mein Blick haftet weiter an der Toilettentür hinter dem Thekenbereich.
»Und weil sie so verzweifelt geklungen hat am Telefon, habe ich mich mit ihr getroffen.«
»Sicher.« An der Toilettentür hängt ein kleines Schild mit der Aufschrift Geschäftsbereich. Ich überlege, ob ich dieses Wortspiel für gelungen halte oder eher weniger darüber lachen kann.
»Kannst du mal aufhören, immer ›sicher‹ zu sagen! Was hätte ich denn tun sollen?«
»Es klingeln lassen«, antworte ich, obwohl ich weiß, dass meiner viel zu gutherzigen Freundin das niemals möglich gewesen wäre.
»Christina wird den Job als Partnerin in der Kanzlei höchstwahrscheinlich nicht bekommen.«
Schlagartig stelle ich das Rubbeln an meinem T-Shirt ein.
»Und das, obwohl sie diesen namhaften Vertreter der evangelischen Kirche bei diesem Rufmordskandal bezüglich einer angeblichen Affäre so fulminant vertreten hat. Das Ganze ging doch wochenlang durch die Presse.« Für diese außergewöhnliche Verteidigung hatte Christina selbst meine Anerkennung. Desaströse Persönlichkeit hin oder her.
»Das verstehe ich nicht. Sie ist doch sicher die einzige Frau in der Kanzlei, die derart imageträchtige Arbeit leistet.«
»Ja. Aber sie ist auch die einzige Frau in der Kanzlei, die schwanger ist.« Astrid sieht mich mit bedeutungsschwerem Blick an. Im Augenwinkel sehe ich einen Mann über die Straße auf die SUPPENKÜCHE zukommen. Ich ignoriere ihn, obwohl mir seine Erscheinung bekannt vorkommt.
»Das tut mir leid. Ich meine, das mit dem Job.«
»Und das mit dem Baby?«
Hinter uns ertönt das kleine Glöckchen, das über derEingangstür angebracht ist. Anstatt mich umzudrehen, versuche ich mich auf meine Wangen zu konzentrieren, ob sie warm werden, meine Fingerspitzen, ob sie kribbeln, mein Herz, ob es sein Dasein bekundet. Aber nichts. Keine auffällige physiologische Reaktion.
»Das freut mich für die beiden.«
Astrid sieht verwundert von meinen Augen über meinen Kopf hinweg zur Tür.
»Sebastian. Was machst du denn hier?«
Sebastian taucht zwischen meiner Freundin und mir neben dem Tisch auf. Im Grunde ist Astrids Verlobter ein netter Kerl. Sehr korrekt und vielleicht etwas penibel. Man könnte auch sagen steif, aber bitte, er ist Steuerberater. Das gehört wohl zur soliden Grundausstattung und ist im Grunde auch gar keine so schlechte Strategie in dieser Welt, unter Menschen die Kontrolle fest in Händen zu halten.
»Meine liebe Astrid. Ich habe eine Überraschung für dich.« Sebastians Stimme klingt sachlich wie immer. »Wir treffen uns jetzt mit George Schuller.«
»Wer ist George Schuller?«, frage ich.
»Der Hochzeitsplaner«, antwortet Astrid.
»Ihr habt einen Hochzeitsplaner?« Mein Blick wandert zu Sebastian, wodurch die Verwunderung über das Strukturieren der Hochzeit bis ins letzte Detail etwas abnimmt.
»Ja. Und es war unglaublich schwer, überhaupt einen Termin zu bekommen.«
»So?«
Sebastian kräuselt die Lippen und spricht pietätvoll etwas leiser.
»Es hat wohl eine kleine Trennung gegeben. Von dem Paar, das vor uns auf der Liste stand.«
»Verstehe«, gebe ich fachmännisch und mit ebenfallsgekräuselten Lippen und würdevoller Stimme wieder. Astrids Verlobter beugt sich zu mir herunter.
»Bei allem Respekt und, Anna, du weißt, ich neige nicht zu Urteilen über andere Menschen, aber Wankelmut verdient nun wirklich keine Würdigung. Dass mich jemand heiraten will, das heißt, dass jemand bereit ist, sein ganzes Leben mit mir zu teilen, ohne zu wissen, was das in der Realität tatsächlich bedeutet. Diese unglaubliche Ehre, die schlage ich doch nicht im letzten Moment aus dem Wind.«
Mein Blick wandert zu Astrid, die eigenartig in ihrem Stuhl zusammenzusinken scheint, während Sebastian seine Ode an die Ehe fortsetzt.
»Die Menschen sind übersättigt. Zumindest die europäischen Großstädter. Fressen sich fett an der Vorstellung, sie würden tausend spannende Dinge verpassen, wenn sie sich auf etwas festlegen, und merken nicht, dass es genau anders herum ist. Menschen, die sich nicht festlegen können, lassen all ihre wunderbaren Chancen im Leben ungenutzt verstreichen, bis sich keine mehr für sie ergibt.«
Auf einmal beginne ich mich schrecklich unwohl zu fühlen, wachse jedoch im Gegensatz zu meiner Freundin kerzengerade von meinem Stuhl in die Höhe. Sebastians steifer Blick in meine Augen sagt mir, dass er gerade versucht,
Weitere Kostenlose Bücher