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Eis und Wasser, Wasser und Eis

Titel: Eis und Wasser, Wasser und Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Majgull Axelsson
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Gefühl hatte zu fallen, so als würde sie aufrecht stehend fallen, hundert Meter, tausend Meter, zehntausend Meter, bis alles grau und neblig war. An mehr erinnert sie sich nicht. Sie weiß nicht, wie sie an Deck gekommen ist. Sie erinnert sich nicht daran, wie sie sich tatsächlich übergeben hat. Und sie hat keine Ahnung, wie lange sie da draußen gesessen hat, bis Ulrika vorbeikam …
    Was auch unwichtig ist. Hier und jetzt. Die Schmutzwäsche holen. Sie in die Waschmaschine stopfen. Aber zuallererst: Die Tür öffnen.
    Und dann tut sie es. Sie drückt die Klinke zu ihrer eigenen Kabine hinunter und öffnet die Tür.
    Vielleicht ist ja doch etwas dran an dieser Seemannsregel, denkt sie später, als sie die Wäsche in die Maschine stopft. Vielleicht ist es besser, nicht hinter sich abzuschließen, die Tür sperrangelweit offen stehen zu lassen und nur den Vorhang vorzuziehen, wenn man allein sein will. Wie es die Seeleute tun, aber niemals die Forscher oder die Gäste. Die Seeleute wissen, wie wichtig es ist, alle wecken zu können, wenn es auf dem Schiff brennt. Dann läuft ein Matrose durch die Gänge, hämmert an alle Türen und ruft, hat man ihnen erklärt. Susanne kann es vor sich sehen, sie kann sich vorstellen, wie Ola durch den Gang rennt, wie er mit der Faust gegen alle verschlossenen Türen hämmert, und sie aufreißt, aber ihre Tür kann er nicht öffnen. Er fasst nur den Griff an und stellt fest, dass abgeschlossen ist, bevor er weiterläuft. Und sie selbst dreht sich in ihrer Kabine nur im Schlaf auf die andere Seite und merkt nicht, wie Rauch und Gase hereinsickern …
    Drei Minuten dauert es, bis man stirbt. Nur drei Minuten.
    Andererseits, denkt sie, als sie den Waschraum verlässt und die Tür hinter sich schließt, fällt ihr die Vorstellung schwer, in einer Kabine mit weit offen stehender Tür schlafen zu können. Sie zwinkert ein paarmal und versucht es vor sich zu sehen, aber das geht nicht. Alles, was sie sieht: Wie sie reglos im Bett liegt und auf ihren heimlichen Besucher wartet. Aber dann, ganz früh am Morgen, genau in dem Augenblick, als sich die graue Nacht in eine ebenso graue Dämmerung verwandelt, da wird sie schnell die Augen schließen, und genau in dem Augenblick huscht jemand hinter dem Vorhang herein, und Sekunden später wird sie davon aufwachen, dass er ihr einen Gürtel um den Hals gezogen hat, ihn so festzieht, dass …
    Sie bleibt abrupt stehen. Ihre Hand hebt sich zitternd und legt sich um den Hals, schützt ihn gegen den Angriff, und sie spürt, wie die Welt wieder vor ihren Augen flimmert. Aber dieses Mal ist sie darauf vorbereitet, jetzt weiß sie, was sie erwartet, wenn sie nachgibt. Also hastet sie weiter bis zur Treppe und geht hinauf zur Brücke, statt hinunter in die Messe und zum Essen. Alles, nur damit der Blutdruck nicht erneut absackt. Denn sie will sich nicht wieder übergeben. Nie wieder.
    Und es hilft. Als sie die sechs Treppen hinaufgegangen ist, huscht ihr ein schwarzer Schatten über die Augen. Sekunden später ist er fort. Das ist das Zeichen. Ihr Blutdruck ist wieder normal. Also öffnet sie gar nicht erst die weiße Tür zur Brücke, dreht sich nur um und läuft die Treppen wieder hinunter. Es ist Zeit, etwas zu essen. Und sie hat Hunger. Ihr Magen ist vollkommen leer.

Anders dreht sich um, bleibt einen Moment lang reglos stehen und balanciert sein beladenes Tablett, bis er ihren Rücken sieht. Sie sitzt an einem Tisch ganz hinten in der Messe und redet mit diesem John, oder – besser gesagt – John redet mit ihr, und sie nickt so intensiv, dass eine kleine Locke aus ihrem Haar den blau gekleideten Rücken auf und nieder wippt. Sture sitzt an Johns rechter Seite und sieht mürrisch aus, sogar noch saurer als üblich, und neben Ulrika sitzt Jenny und nickt im Takt mit ihrer Professorin. Aber der Stuhl links von ihr ist noch frei. Und alle anderen Tische sind voll besetzt. Oder zumindest fast voll besetzt. Da ist es nur logisch, sich hierhin zu setzen. Neben Ulrika.
    Sie nickt ihm zu, lächelt kurz, als er den Stuhl herauszieht, aber mehr auch nicht. Dann sieht sie wieder John an, der weiterredet. Anders hört nur mit halbem Ohr hin. Der Fisch? Welcher Fisch?
    Lars, der Vogelkundler, kommt gerade herein, er nimmt seine Mütze ab und stopft sie sich in die Tasche, will sich auch die Jacke mit einer schnellen Bewegung ausziehen, als ihm einfällt, dass man keine Straßenkleidung mit in die Messe nehmen darf. Also kehrt er auf dem Absatz um und stößt

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