Eis und Wasser, Wasser und Eis
Waschraum bringen und eine oder zwei Maschinen waschen. Und danach wird sie hinunter in den Speiseraum gehen, zu Abend essen und sich den heutigen Vortrag anhören, sie wird dort in der Messe unter allen anderen sitzen, wird genauso sein wie alle anderen, wird sich in eine lächelnde, ganz normale und plaudernde Außenhülle verwandeln und ihr Inneres vollkommen leer und frei machen. Das ist nicht schwer. Das hat sie schon hundertmal gemacht. Oder tausendmal.
Die Tür zum Gang ist schwer zu öffnen, sogar schwerer als sonst, und dabei bekommt sie plötzlich Angst, es könnte sich wiederholen, die Übelkeit könnte wieder hochkommen, und sie müsste sich erneut übergeben; doch dann holt sie tief Luft und fasst einen Entschluss. So wird es nicht sein. Dieses Mal nicht. Nie wieder.
Sie muss ein wenig über ihre eigenen Gedanken schmunzeln, als sie Eimer und Wischmopp durch den Gang trägt. Irgendwo tief in ihrem Kopf sitzt eine allmächtige Einjährige auf ihrem Windelpopo und ist felsenfest davon überzeugt, dass sie alles entscheiden kann, eine energische kleine Weltherrscherin, die sich weigert, sich mit den Gegebenheiten der Realität abzufinden. Wenn sie beschlossen hat, sich niemals wieder zu übergeben, dann wird sie sich auch nicht übergeben, ganz gleich, was die Fünfjährige, die Sechzehnjährige, die Fünfunddreißigjährige oder die Fünfzigjährige, die sich alle neben ihr drängeln, über Seekrankheit, Magen- und Darmgrippe und – wenn auch mit abgewandtem Blick und ganz leiser Stimme – über zu hohen Alkoholkonsum zu sagen haben. Sollen sie doch sagen, was sie wollen. Sie wird sich nie wieder übergeben.
Sie spült den Mopp sehr sorgfältig aus, während sie ihre jüngeren Ichs betrachtet. Die Einjährige ist die Einzige, die ihr in die Augen schaut. Sie trägt ein rotes Strickkleidchen mit einer Seidenschleife unter dem Kinn und erwidert ernst den Blick ihres älteren Ichs, während die Fünfjährige sich bereits abwendet und so tut, als wäre sie mit einer Puppe beschäftigt, die Sechzehnjährige ihre Trauer in sich verschließt, die Fünfunddreißigjährige tief in die Augen eines Mannes blickt und die Fünfzigjährige vorgibt, vollauf mit der Lektüre eines Buches beschäftigt zu sein. Susanne schnaubt verächtlich über sie. Was bilden sie sich ein? Als wüsste sie nicht alles über sie, als könnte sie die Scham nicht spüren, die sie dazu bringt, den Blick abzuwenden. Sie können nichts vor ihr verbergen. Sie weiß alles.
Nicht wert zu …
Nein. Weg mit Inez und ihrer schrillen Stimme. Sie war ja damals hysterisch. Wusste nicht, was sie sagte. Außerdem hat Susanne das schon häufig genug durchgekaut, das ist eine ausgetretene Spur von Selbstmitleid, die sie ganz gewiss nicht noch einmal betreten will. Sie stellt Mopp und Eimer an Ort und Stelle und löscht das Licht in der Besenkammer, steht Sekunden später auf dem Gang und schließt die Augen. Was wollte sie noch mal machen? Ach ja. Waschen. Was bedeutet, dass sie in ihre Kabine zurückgehen und die Schmutzwäsche holen muss. Und nein, sie denkt gar nicht daran, der Angst nachzugeben, ihre Hand sucht zwar sofort in der Tasche nach dem Springmesser und umklammert es, aber das heißt noch lange nicht, dass ihre Angst so groß wäre, dass sie nicht in ihre eigene Kabine gehen und die Wäsche holen will. Von wegen. Eine Drohung ist eine Sache, und die Frau ohne Körper war definitiv als eine Drohung anzusehen, aber einen Ledergürtel um einen fiktiven Hals zu ziehen ist etwas ganz anderes, als ihn ihr um den eigenen Hals zu schlingen. Außerdem ist sie ohne zu zögern bereit, das Springmesser zu benutzen, mit oder ohne Schneide. Um einen Angreifer in die Augen zu stechen, ist keine Schneide nötig …
Sie schließt die Augen. Muss sich konzentrieren. Die Gewaltfantasien kann sie sich für ihr nächstes Buch aufsparen.
Dennoch durchfährt sie eine Welle der Angst, als sie die Hand auf die Türklinke legt, und eine Sekunde lang drängt sich ihr die Erinnerung auf, was vor nicht einmal zwei Stunden passiert ist, als sie vor Arbeitseifer fast platzte, als die Figuren ihres neuen Romans angefangen hatten, sich in ihrem Hinterkopf zu rühren, als Elsie sie plötzlich im Spiegel angeschaut und sie sich umgedreht und die Frau ohne Körper entdeckt hatte. Wie ihr dann das Blut buchstäblich aus dem Kopf nach unten sackte, sie spürte, wie es geschah, wie sich jede einzelne Ader öffnete, als würden sie das Maul aufreißen, und sie plötzlich das
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